Herbert Kickl
Regierungsbildung

Guten Morgen in der neuen, blauen Welt

Österreich wacht politisch in einer neuen Realität auf. Mit FPÖ-Chef Herbert Kickl am Sprung ins Kanzleramt. Ob die Töchter in der Bundeshymne wieder gecancelt werden, ist nur eine Frage von vielen.

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Guten Morgen an diesem blauen Dienstag!

Sie fahren gerade mit der übervollen U-Bahn in die Arbeit, stauen sich mit dem Auto ins Büro oder sind dort bereits angekommen und drücken sich ihren ersten Kaffee aus dem Automaten. Vielleicht freuen Sie sich nach dem ersten Meeting über diese 4-Tage-Woche. Alles wie immer also.

Und doch ist alles anders. Österreich ist in einer neuen Realität aufgewacht: Der Dritten Republik. Klingt dramatisch, ist aber de facto so. Der Weg dorthin ist geebnet, wie Eva Linsinger kommentiert. 

Die Zweite Republik nach 1945 war geprägt von ÖVP, SPÖ und Sozialpartnerschaft. Künftig ist die Republik ziemlich sicher von der FPÖ geprägt und zwar durch und durch.

Blaue Welle quer durchs Land

Gestern erteilte Bundespräsident Alexander Van der Bellen dem Chef der FPÖ, Herbert Kickl, den Auftrag zur Regierungsbildung. Die ÖVP, die mit Karl Nehammer gerade noch den Bundeskanzler stellte, buhlt um die Rolle als Juniorpartner. Mit ihrem designierten neuen Parteichef und Nehammer-Nachfolger Christian Stocker.

Der bullige und weitgehend unbekannte Wiener Neustädter steht symbolisch für die Erosion der ehemaligen Großparteien über Nacht. Die ÖVP fährt auf Notbetrieb. Und die SPÖ kam unter Parteichef Andreas Babler gar nie auf Touren.

Entweder einigen sich FPÖ und ÖVP rasch. Oder es gibt Neuwahlen, bei denen die FPÖ aus heutiger Sicht erneut die besten Karten hätte. Nach dem ersten blauen Landeshauptmann in der Steiermark, Mario Kunasek, ist Österreich nun also auf dem Weg zum ersten blauen Bundeskanzler. Mit einer blauen Front aus fünf Bundesländern, in denen die FPÖ schon mitregiert. Das Burgenland ist Kandidat sechs (nach der Wahl am 19. Jänner will FPÖ-Landes-Chef Norbert Hofer eine Koalition mit der ÖVP schmieden). Bliebe das rot-schwarze Kärnten (mit den Blauen im starken Aufwind), das rot-schwarze Tirol (mit den Roten in der Krise) und die stabil rote Festung Wien. 

Auch Kickl muss das Budget sanieren 

Im Vergleich zur gescheiterten Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und Neos könnte eine aus FPÖ und ÖVP rascher geschmiedet sein. Denn die Überschneidungen sind groß. Einiges liegt schon fertig in der Schublade. 

Der springende Punkt werden nicht die Inhalte sein. Sondern das Geld. Denn wie ÖVP und FPÖ das milliardenschwere Budgetloch stopfen wollen, dafür fehlt jegliche Fantasie. Im Wahlkampf waren sie es, die erstens nichts von einem Budgetloch wissen wollten, zweitens mit Steuerzuckerln wie einer Senkung der Lohnnebenkosten sowie der Unternehmenssteuern lockten und drittens neue Steuern ausschlossen.

Wird Töchter in Hymne Widerstands-Song?  

Aber das sind Details im Vergleich zu ganz anderen Fragen, die sich nun Beobachter auf der ganzen Welt stellen werden: Wie sehr würde ein Kickl das Modell der „Illiberalen Demokratie“, das sein Vorbild Viktor Orbán in Ungarn umgesetzt hat, versuchen, in Österreich auszurollen – und in Europa? Immerhin hat die FPÖ mit Orbáns Fidesz und anderen Rechts-Parteien die Fraktion „Patrioten für Europa“ gegründet. 

Wir sehr würde sich Österreich Russland und Präsident Vladimir Putin annähern? Und wie viel Illiberalität würde Alexander Van der Bellen Kickl durchgehen lassen, der sich als Hüter der liberalen Demokratie sieht?

In Wien könnte es künftig vermehrt Staus auch außerhalb der Stoßzeiten geben. Wer sich an die Donnerstagsdemos im Jahr 2000 erinnert, als die FPÖ unter einem ÖVP-Kanzler an die Macht kam, kann erahnen, was künftig unter einem blauen Bundeskanzler auf den Straßen los sein könnte. 

Werden die „Töchter“ in der Bundeshymne in den neuen Zeiten der Gender-Verbote zum Widerstands-Song? Nur eine Frage von vielen im blauen Österreich.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.