Herz bewegt sich
Die Zukunft ist ein vergleichsweise faszinierendes Phänomen, schon weil Sie und ich dort den Rest unserer Leben zubringen werden. So sah es auch der einst multimedial berühmte US-Hellseher und Trivial-Entertainer Criswell (1907–1982), der von sich behauptete, sich allnächtlich in einen gemütlichen Sarg zurückzuziehen, und der sich in vielen seiner Fernseh-Prognosen in den 1950er- und 1960er-Jahren („Criswell Predicts“) allerdings spektakulär geirrt hat. Für Popmusik hat der Mann, wenn die Quellen nicht täuschen, sich wenig interessiert. Aber wo, wenn nicht an den Frontlinien der populären Klangkultur, sollte die Zukunft denn ausgehandelt werden?
Die Fortschrittsversprechen der Gegenwartspopkultur sind jedoch leer, ihre Zeitreiseschecks ungedeckt. Die Digitalmoderne will digital (also viral) sein, aber bitte nicht mehr modern, weder post-, noch vor-, noch meta-. Ein banger Blick in die Ö3-Single-Charts vom 8. August 2023 bestätigt den Befund weitgehend, fördert verstörend Rückwärtsgewandtes zutage. Ja, ich weiß, da ist auch Schönes dabei, aber Abweichungen beglaubigen bekanntlich die Maxime (oder wie das heißt): Platz eins der Austria Top 40 belegt erneut das Techno-Remake eines Songs, der einst schon den zweiten „Bibi-&-Tina“-Film verunziert hat, also bereits 2014 unliebsam aufgefallen ist und daher ganz dringend neu bearbeitet werden musste: „Mädchen auf dem Pferd“ pumpt sich im hitparadendynamisierten Remix des DJ-Duos Luca-Dante Spadafora und Niklas Dee sowie des Sängers Octavian mit 170 beats per minute in Richtung Jägermeister-Volldröhnung.
Midas & Luzifer
Auf Rang zwei folgen Sira, Bausa & Badchieff mit einem geringeren klingenden Übel namens „9 bis 9“ (Ähnlichkeiten mit Leo Perutz’ literarischem Halluzinogen „Zwischen neun und neun“ sind rein zufällig und definitiv nicht beabsichtigt.) Zu anheimelnder Sommerhitmelodik rappt man da leicht rätselhafte Lyrics („Von neun bis neun, was ich anfass’, wird zu Gold / Schwarzer Hoodie stinkt nach Smoke / Und mein Herz bewegt sich zu dem Bass“) und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein. Den dritten Platz hat der US-Rapper Travis Scott mit seinem Kollegen Playboi Carti erobert – mit einem zurückgelehnten Trap-Track namens „FE!N“, was gesungen aber wie „Fiend“, also recht teuflisch klingt. So verantwortungslos zitiert Pop mit mobilen Herzen seine SchirmherrInnen: Bibi, Midas, Herrgott, Satan, alles Schall und Smoke.
Kristallkugel unnötig
„Es gibt Songs, die die Popgeschichte in ein Davor und ein Danach teilen“, schreibt der legendäre britische Musikkritiker Simon Reynolds in seinem jüngsten Buch, das er „Futuromania“ genannt hat. Die drei oben genannten Beispiele werden eher nicht dazugehören. Behaupte ich einfach dreist, aber was weiß ich schon. Mein innerer Criswell döst in seinem Sarg. Mehr zu Simon Reynolds und den Zukunftsträumen der Popmusik, diese Prophezeiung immerhin kann ich wagen, werden Sie im kommenden profil lesen können.
Die Zukunft der Ö3-Charts ist übrigens erstaunlich leicht vorherzusehen, Kristallkugel-Entstaubung nicht nötig. I predict: Zwischen Ende Dezember 2023 und Anfang Jänner 2024 werden sich, wie stets, Mariah Careys Phil-Spector-Hommage „All I Want For Christmas Is You“ und die offenbar rostfreie Wham-Schnulze „Last Christmas“ den Spitzenplatz teilen. Es sind dies zwei geschichtsvergessene Songs aus den Jahren 1994 und 1984. Quod erat demonstrandum: Die Zukunft liegt in der Vergangenheit, zumindest die der Popmusik. Oder wie es der amerikanische Baseball-Profi Yogi Berra so schön formuliert hat: „Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war.“ Ganz ähnlich konnte nur der fabelhafte Karl Valentin das Kuriosum der Zeitkonfusion in Worte fassen: „Früher war selbst die Zukunft besser.“
Einen futuristischen Donnerstag wünscht Ihnen
Stefan Grissemann