JD Vance, the venture capitalist and author of "Hillbilly Elegy", speaks with supporters following a rally Thursday, July 1, 2021, in Middletown, Ohio, where he announced he is joining the crowded Republican race for the Ohio U.S. Senate seat being left by Rob Portman. (AP Photo/Jeff Dean)
Morgenpost

Der Fall „Hillbilly-Elegie“: Soll man unliebsame Bücher canceln?

Lesen oder nicht lesen, ist das die entscheidende Frage? Das lese doch, wer will!

Drucken

Schriftgröße

Eine goldrichtige Entscheidung? Oder Ausdruck hilflosen Übereifers? Die Grenzen im Fall J. D. Vance scheinen abgesteckt, es bewegt sich kaum noch etwas. 

Zur Erinnerung: Als Vance, im laufenden US-Präsidentschaftswahlkampf zu Donald Trumps Running Mate aufgestiegen, im Juni 2016 sein Buch „Hillbilly Elegy“ publizierte, war der 1984 in Middletown, Ohio, geborene Sohn aus einer Arbeiterfamilie weitgehend unbekannt. Furore machte das Buch gleichermaßen über Nacht: Bereits einen Monat später gelangte der Roman an die Spitze der „New York Times“-Bestsellerliste, etwas mehr als ein halbes Jahr darauf waren 700.000 Exemplare der autobiografisch gefärbten Saga über die unendlichen Weiten des amerikanischen Hinterlands und dessen Untiefen verkauft. Vance führte mit dem Buch in eine Welt, der er selbst entkommen konnte. 

Der Ullstein-Verlag veröffentlichte 2017 die deutschsprachige Übersetzung der „Hillbilly-Elegie“; die Feuilletons jubelten, selbst der deutsche Kanzler Olaf Scholz bekannte, die Generationengeschichte aus den Appalachen habe ihn zu Tränen gerührt. 

Nach Bekanntgabe der Vizepräsidentschaftskandidatur wollte Ullstein plötzlich mit seinem Autor nichts mehr zu tun haben, da der mögliche Trump-Vize nun eine „aggressiv-demagogische, ausgrenzende Politik“ vertrete; „Hillbilly-Elegie“ erscheint inzwischen im Münchner Kleinverlag Yes. 

„Es war goldrichtig, den Bestseller ,Hillbilly Elegy‘ aus dem Programm zu werfen“, lobte unlängst der deutsche „Spiegel“: „Umstrittene Autoren haben in einem renommierten Verlag nichts zu suchen.“ profil-Kolumnistin Elfriede Hammerl wiederum hält im aktuellen Heft dagegen: „Das war insofern übereifrig, als die Autobiografie, die Vance im Alter von 31 Jahren schrieb und die 2016 zum weltweiten Bestseller wurde, ja nicht die Hass- und Hetztiraden des aktuellen Trump-Wahlprogramms wiedergibt, sondern das (armselige) Leben des weißen Proletariats im Rust Belt behandelt.“

Lesen oder nicht lesen, ist das die entscheidende Frage? Was nach Konflikt klingt, ist keiner. Niemand sollte daran gehindert werden, einen Roman, der mit reichlich Pathos und Patriotismus dahinsegelt, zu konsumieren. Es gelten keinerlei Einschränkungen für ein Buch, das so fröhlich wie unbescheiden vorgibt, thematisch eine „Gesellschaft in der Krise“ (so der Untertitel) abzuzirkeln. Lesen Sie gefälligst! Auch Bücher, die Sie zum Weinen bringen, so oder so. 

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.