Morgenpost

Im Flachland der Eigeninteressen

Übergriffe hinter den Bühnen, während der Dreharbeiten und der Theaterproben: Die Debatte um systematischen Machtmissbrauch in der Kulturszene weitet sich zusehends aus.

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Die beiden Wien-Konzerte der in Verruf geratenen deutschen Band Rammstein, die ihre höchst lukrative Europa-Tournee derzeit dennoch abspult, als wäre nichts gewesen, rücken näher. Am 26. und 27. Juli soll das Schockrock-Monument plangemäß im Ernst-Happel-Stadion auf die Bühne treten und Chef-Teutone Till Lindemann seine zynischen Weisen zu Inzest, Nekrophilie, Gewalt und Heimatbesessenheit vortragen. Die von Betroffenen erhobenen schweren Vorwürfe, der Rammstein-Sänger habe über Jahre ein perfides System des sexuellen Missbrauchs etabliert, werden per teurer Anwaltskanzlei bekämpft, selbst Medien, die vorurteilsfrei darüber berichten wollen, mit Klagen bedroht.
Die Rufe nach vorsorglicher Absage der Konzerte scheinen daher im Flachland der vielfältigen Eigeninteressen zu verhallen: Die Empörten wollen canceln, die Veranstalter profitieren, die Fans abwarten, die restlichen Band-Mitglieder im Boden versinken (oder wenigstens ihre Köpfe in den Sand versenken). The show must go on, bis einwandfrei bewiesen ist, dass sie nicht mehr weitergehen kann. Die Ermittlungen laufen, aber nicht schnell genug für Schlagzeilen-Junkies und Liebhaber der außergerichtlichen Direktverurteilung, für das neue Kriegsgericht der Sozialen Medien.
Das vorläufige Motto des Anti-Lindemann-Aktivismus – „Keine Bühne für mutmaßliche Täter!“ – klingt vernünftig, ist aber schon deshalb problematisch, weil es etwas Unbedingtes aus etwas Ungeklärtem ableitet, Absolutes gegen Unbestimmtes setzt. Persönliche Antipathien, die im Fall Lindemann zugegeben leicht zu mobilisieren sind, tun nichts zur Sache, wenn es um den Vorwurf sexueller Gewalt geht. Die vorliegenden Augenzeuginnenberichte wiegen schwerer, sie rechtfertigen allerhöchstes Misstrauen gegen diese Band, ein abschließendes Urteil ist aus ihnen allerdings (noch) nicht zu generieren.

 

Würgreflexe


Ein Gutes haben die Würgreflex provozierenden Debatten, die sich dieser Tage im Kulturbetrieb ausbreiten wie eine Infektionskrankheit: Über die vielen Schattierungen des Machtmissbrauchs öffentlich zu reden (und diesen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu ächten) fährt all jenen, die gern Grenzen überschreiten und Menschen ausbeuten, heftig in die Parade. Das Wissen, dass die von ihnen Malträtierten ihre Rechte kennen und nützen werden, kommt bei den privilegierten Nutznießern gerade erst an (und es kommt dort alles andere als gut an). Die Ermächtigung der vormals Rechtlosen läuft. Aber sie hat auch ihre Schattenseiten.
Wenn die Filmemacherin Marie Kreutzer, wie unlängst geschehen, den Rahmen einer Filmpreis-Gala dazu verwendet, anonyme Anschuldigungen in den totenstillen Raum zu stellen (sie hat drei Beispiele krass missbrauchter Macht in der Filmbranche angeführt, von denen angeblich „alle“ wissen), dann lanciert sie damit zweierlei: Sie spricht eine legitime Drohung gegen die Täter aus, rückt diese – über den juristisch sicheren Weg der bloßen Andeutung - ins Visier der Öffentlichkeit; sie heizt damit aber auch eine Gerüchteküche an, in der seither mehr als bloß drei Namen kursieren, stellt – ohne Beweise bemühen zu müssen – unliebsame Figuren, die sich möglicherweise nichts zuschulden kommen ließen, an den Pranger eines schnellerhitzenden Branchen-Talks. Die Frage ist tatsächlich: Wollen wir die dringend nötigen Diskurse über patriarchale Gewalt zum Bassena-Tratsch verflachen oder diese in aller gebotenen Ernsthaftigkeit, mit offenem Visier führen?

Durchnässt bis auf die Knochen


Nicht nur die Biotope Musik und Film stehen derzeit unter Beobachtung und Verdacht, auch an den Bühnen geht es übel zu. (Dabei wird es übrigens nicht bleiben: Die Kultur ist, wie so oft, auch hier die Avantgarde; in Wirtschaft, Medien und Politik wird es demnächst lauter werden.) Eine Umfrage unter rund 750 Theaterschaffenden hat dieser Tage niederschmetternde Ergebnisse geliefert: An deutschen Häusern herrsche ein Klima der Angst und der Übergriffe, fast alle der anonym Befragten gaben an, bereits persönlich mit Machtmissbrauch, der in vielen Fällen auch von weiblichen Führungskräften ausgehe, konfrontiert gewesen zu sein. Und die Dinge werden sich ändern, weil sie sich ändern müssen. „The times, they are a-changin’“, sang Bob Dylan bereits 1964: „Admit that the waters around you have grown / And accept it that soon you'll be drenched to the bone / And if your breath to you is worth savin′ / Then you better start swimmin' or you'll sink like a stone.“
Das Wasser steigt. Schwimm oder stirb. Denn die Zeiten sind dabei, sich zu wenden. Es empfiehlt sich, diesen Umstand als gute Nachricht zu verbuchen. Rückgängig wird es nicht mehr zu machen sein.

Einen formidablen Montag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.