Oasis machen es gerade vor: In den besten Jahren fällt das Urteile über die vergangenen Erfolge - und über einen möglichen Neubeginn.
Morgenpost

Die Krise der besten Jahre

Die Generationendebatte entdeckt gerade eine Phase: die Lebensmitte. Die Zeit des ambivalenten Bilanzziehens gerät in den Fokus von digitalen Formaten, beflügelt die Ratgeber-Industrie, taucht in den Popkultur auf – und in der Philosophie.

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Alter ist ein gesellschaftliches Thema. Auf der einen Seite wird eine alterslose Gesellschaft gefeiert, in der die Haltung wichtiger ist als das Geburtsjahr – vom Klima bis zur Mode. Auf der anderen Seite werden immer engere Generationen abgesteckt und mit Klischees aufgeladen – von den arbeitssüchtigen Boomern zur arbeitsscheuen Gen Z. 

Alter ist aber auch ein Thema, weil wir immer älter werden und weniger Kinder kriegen. Das schafft strukturelle Probleme – von der Kinderbetreuung bis zum Pensionsantrittsalter. 

Wird das Lebensalter zum gesellschaftlichen Thema, so richtet sich der Blick meist auf die Randzonen. Kindheit, Pubertät, die jungen Erwachsenenjahre wurden zuletzt publizistisch ausführlich analysiert und philosophisch durchleuchtet. Ebenso wie Pensionsschock und das Alter. Die Jahre dazwischen, die Lebensmitte, ist so etwas wie „philosophisches Niemandsland“. Diese Erkenntnis hat auch die Philosophin Barbara Bleisch zum Nachdenken angeregt. Das Ergebnis hat sie in ein Buch gepackt: „Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre“.

Bilanzziehen

Wann genau diese Lebensmitte beginnt, ist subjektiv. Man ist nicht mehr ganz so jung. Aber noch lange nicht alt. Irgendwo dazwischen. In den besten Jahren. Oder auch: in der Midlifecrisis. Je nachdem.

Möglicherweise ist die Mitte des Lebens also grundsätzlich krisenbehaftet, weil sich existenzielle Fragen zuspitzen oder noch einmal neu stellen.

Barbara Bleisch

Philosophin

Was die Lebensmitte jenseits einer Zahl kennzeichnet, ist ein Perspektivenwechsel. Der Blick auf die eigene Biografie kippt, die Rückblicke werden länger und kritischer, der Blick nach vorne nicht mehr ganz so unbeschwert. Viele Entscheidungen sind getroffen, etliche Weichen längst gestellt. Wunderkind, Ballerina oder Rennfahrerin wird jetzt niemand mehr. 

Was mit diesen Entscheidungen einhergeht, so beschreibt es auch Barbara Bleisch, ist das Bedauern über die vielen Leben, die man nicht gelebt hat, die man auch hätte leben können. Vielleicht markiert die Lebensmitte genau den Punkt, an dem wir diese Entscheidungen in ihrer Tragweite begreifen – und beurteilen. 

Als eine Zeit der Bilanzziehens, beschreibt Bleisch es, „wenn wir das Erreichte und Ersehnte abgleichen mit den Träumen, die wir einst hatten und die wir vielleicht immer noch in uns schlummern spüren, die zu realisieren aber immer unwahrscheinlicher wird.“ Daran kann man zugrunde gehen. Wenn die „Meilensteine im Leben nicht im Einklang mit den eigenen Überzeugungen und Sehnsüchten gesetzt“ werden, dann kann sich das eigene Leben fremd anfühlen. „Möglicherweise ist die Mitte des Lebens also grundsätzlich krisenbehaftet, weil sich existenzielle Fragen zuspitzen oder noch einmal neu stellen,“ analysiert Bleisch.

Gleichzeitig ist die Lebensmitte auch Erntezeit, die Blüte des Lebens, die besten Jahre – Midlife-Crisis hin oder her. Viele Unsicherheiten sind aus dem Weg geräumt, Berufswahl und Familiengründung sind meist abgeschlossen. Selbstbewusst, voller Lebenserfahrung und gelöst von vielen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen kann die Quality-Time des Lebens beginnen. Man kennt die eigenen Stärken und Ängste. Man sucht nicht mehr, man hat gefunden – im Idealfall sich selbst. Barbara Bleisch, selbst in der Lebensmitte angekommen, hinterfragt an dieser Stelle, ob nicht der Zauber des Neuen überschätzt wird: „Vieles wird sogar erst mit der Erfahrung reich und tief oder gewinnt zumindest mit der Zeit an Intensität – und ist deshalb just in der Lebensmitte von großer Schönheit.“

Kipppunkt

Dieser breite Kipppunkt zwischen Jugend und Alter ist auch jenseits der Philosophie Thema. Auch die digitale Welt hat die Lebensmitte entdeckt. Soziale Medien und Magazine durchziehen etwa aufklärende Texte und Ratgeber zur Menopause – genauer: zur Perimenopause. Neben der Bewusstseinsbildung für ein lange tabuisiertes Debattenthema greift hier freilich auch Geschäftstüchtigkeit um sich – von natürlichen Hormonen über Fitnessapps bis zu Ratgebern. Tenor ist dabei meist, das hormonelle Rad der Zeit etwas einzubremsen. Alle wollen alt werden. Aber: Wer will schon alt sein?

Vieles wird sogar erst mit der Erfahrung reich und tief oder gewinnt zumindest mit der Zeit an Intensität – und ist deshalb just in der Lebensmitte von großer Schönheit.

Barbara Bleich

in ihrem neuen Buch "Mitte des Lebens"

Wer glaubt, es handle sich hier um ein rein weibliches Thema, der irrt. Männer in den besten Jahren kommen nämlich auch in die Wechseljahre, schleichender zwar, aber ebenfalls ab dem 40. Lebensjahr. Begleitet von sinkendem Hormonspiegel, Muskelabbau, Zunahme des Körperfettanteils und Schlafstörungen. Was genau in der Andropause oder auch Klimakterium virile passiert, ist noch kaum öffentlich bekannt. Auch diesen Diskurs-Geheimplatz wird die gesellschaftliche Aufklärung noch entdecken.

Balanceakt

Philosophisch betrachtet, liegt die Herausforderung dieser Jahre wohl in einer Balance – zwischen der Wehmut über das Loslassen so manches Traums und die Freude über das bisher Geschaffene. Die Krise der besten Jahre überwindet, wer es schafft, sich vom Gram über Vergangenes nicht den Blick auf das Kommende zu verstellen. 

Dann kann die Lebensmitte zum Aufbruchspunkt werden. Prominente Neuanfänge in den besten Jahren füllen Klatschspalten und Feuilletons - jüngstes prominentes Beispiel ist wohl die Oasis-Reunion der Gallagher-Brüder. 

Barbara Bleisch führt in ihrer „Philosophie der besten Jahre“ durch alle Aspekte und Phasen dieser weit gefassten „Mitte des Lebens“. Es ist ein Buch über das Entscheiden, über das Gestalten des eigenen Lebensweges und fungiert beim Lesen mehr als eine Gefährtin denn als Ratgeberin. Wenn sich so etwas wie eine Anregung aus diesen knapp 250 Seiten ziehen lässt, dann wohl, die eigene Lebendigkeit nicht zu verlieren – weder durch Rückschläge noch durch das Erreichen der eigenen Ziele. Und die Fähigkeit, das Staunen immer wieder neu zu entdecken, sich der Welt nicht zu verschließen. 

In jeder noch so ernüchternden Lebenstraum-Entzauberung steckt eine Form von Freiheit. Für Bleisch ist es die, „mich nicht durch die Tage schieben zu lassen wie das Geröll einer Steinlawine, sondern entschlossen weiterzugehen auf der Wanderung meines Lebens“.

Judith Belfkih

Judith Belfkih

war zwischen Juli und November vertretende Digitalchefin. Davor in der Chefredaktion der „Wiener Zeitung“.