Inflation heute und damals: Vom “Hinaufnummerieren” und der “Haussebewegung”
Ich will Sie heute 100 Jahre zurück ins Jahr 1922 versetzen – und zugleich ein aktuelles Thema behandeln: Die Inflation. Starten wir mit einem Blick in die “Neue Freie Presse” vom 10. Juni 1922, einem Samstag:
“Mit dem Aufhören der staatlichen Bewirtschaftung des Brotes hat auch die amtliche Festsetzung des Preises durch das Ernährungsamt oder durch den Landeshauptmann-Bürgermeister aufgehört. Von einer allgemein gültigen, gleichzeitigen Preisfestsetzung kann daher keine Rede sein. Als Maßstab für die Rückwirkung der Valutensteigerung auf die Broterzeugung kann es jedoch angesehen werden, daß die Ankerbrotfabrik von Montag an den Preis für einen Laib Brot von 940 auf 1230 Kronen e r h ö h t.”
Die “Arbeiterzeitung” schreibt auf ihrer Titelseite am selben Tag:
“Mittwoch ist von einem Wiener Bezirksgericht eine Bettlerin wegen Preistreiberei verurteilt worden, weil sie Zündhölzer, die sie um achtzehn Kronen gekauft, um vierzig Kronen verkauft hat. Ist es nicht Tollheit? In der ganzen Stadt wurden in den letzten Tagen die Preise aller Nahrungsmittel, aller lebenswichtigen Gebrauchsgegenstände geradezu von Stunde zu Stunde “hinaufnummeriert”. Niemand vermag mehr zu sagen, was ein Kilogramm Zucker, was ein Kilogramm Fleisch kostet, da die Preise ja jeden Tag um hunderte Kronen emporgetrieben werden. Und während das Kriegswucheramt diesen Orgien des Preistreibens mit verschränkten Armen zusieht, sperrt man eine kranke Bettlerin ein, weil Sie an ein paar Zündhölzerschachteln 22 Kronen verdient hat!”
Die “Illustrierte Kronenzeitung” schreibt unter dem Titel “Der Teuerungswirbel”:
“Die Haussebewegung auf den Vieh- und Fleischmärkten kennt keine Grenzen. Jeden Tag zeitigt neuerliche Preiserhöhungen. Unbekümmert um die ohnehin sinkende Kaufkraft der Bevölkerung steigen die Preise aller Fleischarten ins unendliche. Im Detailbericht hat sich Schweinefleisch neuerlich um 400 Kronen per Kilogramm erhöht und stellt sich je nach Qualität auf 4600 bis 6400 K per Kg.”
Es sind wenige Auszüge aus einem beliebigen Tag inmitten der Inflationskrise der 1920er-Jahre, geprägt von Lebensmittelsorgen und Preissteigerungen (die Dank der Digitalisierungsarbeit der Österreichischen Nationalbibliothek einfach für die Allgemeinheit unter anno.onb.ac.at zugänglich sind).
Die Situation ist natürlich nicht mit der Inflation heute vergleichbar, wir sind weit entfernt von der Dramatik der 1920er Jahre, mit ihren tiefgreifenden sozialen Verwerfungen, politischen Radikalisierungen und Phasen der Hyperinflation.
Die Entwicklungen der letzten Wochen sind dennoch Grund genug sich die Inflation und ihre Folgen genauer anzuschauen, was wir in der profil-Redaktion uns für die kommende Print-Ausgabe vorgenommen haben (als E-Paper ab Samstag, gedruckt im Abo ab Sonntag und laufend auf profil.at).
Denn es macht etwas mit einer Gesellschaft, wenn die Preise derart anziehen, vor allem weil Personen mit geringerem Einkommen oder ohne Vermögen umso betroffener sind. Und diese Ungleichheit ist sozialer Sprengstoff.
Ihnen wünsche ich dennoch ein schönes Wochenende!
Sebastian Pumberger