Genau hinschauen
Ich gebe zu, es kommt – nach mehr als fünfzehn Jahren journalistischer Berufserfahrung – nicht mehr allzu oft vor, dass ich beim Lesen eines Textes erröte. Doch vor einigen Tagen war exakt das der Fall. Grund dafür war ein Beitrag, den Michael Nikbakhsh, mein Chef im Wirtschaftsressort von profil und Kollege bei zahllosen gemeinsamen investigativen Recherchen, für die letzte Ausgabe des heurigen Jahres verfasst hatte. (Das besonders liebevoll kuratierte und großformatig gedruckte „XXL“-Heft beschließt für uns traditionell das redaktionelle Jahr.)
In seinem Text über das Wesen von Investigativjournalismus hat es sich Kollege Nikbakhsh nicht nehmen zu lassen, mir Rosen zu streuen. Unter anderem findet sich darin die kühne Behauptung: „Wenn Stefan Melichar etwas in einem Datensatz nicht findet, dann ist es auch tatsächlich nicht da.“ Einerseits liegt es in der Natur dieses schmeichelhaften Satzes, dass er kaum auf seinen Wahrheitsgehalt hin überprüft werden kann. Andererseits gebietet nicht nur der kollegiale Anstand, ihn an dieser Stelle folgendermaßen zu ergänzen: Der beste Fund in einem Datensatz hilft wenig, wenn dabei der Blick auf das große Ganze verlorengehen würde – und Michael Nikbakhsh ist derjenige, der dafür sorgt, dass genau das nicht passiert.
Investigativjournalismus wird bei profil seit jeher großgeschrieben. Man muss aber gar nicht historische Beispiele bemühen, um herauszustreichen, welche wichtige Bedeutung intensive Recherche, exklusive Zugänge, hartnäckige Spurensuche und unabhängige Berichterstattung für dieses Magazin haben. Es finden sich dafür unzählige aktuelle Beispiele – verfasst von einer ganzen Reihe von Kolleginnen und Kollegen dieser Redaktion, längst nicht mehr nur im Print-Format, sondern auch für die speziellen Gegebenheiten des Internets aufbereitet. Erst vor wenigen Wochen wurde eine profil-Story zu einem umstrittenen früheren Öl-Projekt der OMV mit dem renommierten Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet: in der Kategorie Online, wohlgemerkt.
Die inhaltliche Spanne, die profil im Investigativ-Bereich alleine 2022 präsentiert hat, reicht von der Wiener Gemeindewohnung des Millionärs Siegfried Wolf über die diversen Chat-Nachrichten von Politikern, Beamten und Medienmachern bis hin zur gleichsam diffizilen wie auch umstrittenen Frage, auf welche Weise ein österreichischer Holzkonzern in Rumänien das Volumen von Bäumen misst. Zu einem ganz besonderen Jahr entwickelte sich 2022 im Investigativbereich auch wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine. In der Folge verhängten westliche Staaten Sanktionen gegen Oligarchen aus dem Dunstkreis von Waldimir Putin – unermessliche reiche und mächtige Geschäftsmänner, deren undurchsichtige Firmenkonstrukte seit längerem im Zentrum journalistischer Recherchen stehen. Mit der Verhängung der Sanktionen wurde schlagartig der praktische Wert dieser Investigationen sichtbar: mitunter sind sie der einzige Weg, um Licht in verschleierte Eigentümerkonstruktionen zu bringen.
Weder das Oligarchen-Thema, noch die mannigfaltigen heimischen Polit-Affären und Skandale werden mit dem Jahreswechsel Geschichte sein. So weit lehne ich mich an dieser Stelle aus dem Fenster: Auch 2023 bleibt für Investigativjournalistinnen und Investigativjournalisten in Österreich genug zu tun.
Freuen Sie sich auf spannende Recherchen und Enthüllungen!
Stefan Melichar