Morgenpost

Bye-bye, Biden

Der Rückzug von Joe Biden als Präsidentschaftskandidat ist für die US-Demokraten Chance und Risiko zugleich.

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Von leisen Gerüchten über ein lauter werdendes Murmeln hin zu offenen Forderungen – selbst seiner engsten Gefährten: Das Netz um US-Präsident Joe Biden war enger geworden in den vergangenen Tagen. Er selbst hat es am Sonntag nun zugezogen und ist von seiner Kandidatur für eine zweite Amtszeit als US-Präsident zurückgetreten.

"Ich glaube, es ist im besten Interesse meiner Partei und des Landes, wenn ich mich zurückziehe und mich ausschließlich auf die Erfüllung meiner Pflichten als Präsident für den Rest meiner Amtszeit konzentriere", erklärte der 81-Jährige Sonntag in einem Brief, den er auf X veröffentlichte. 

Ausschlaggebend für diesen zuletzt bereits erwartbaren Schritt waren mehrere Zuspitzungen der vergangenen Tage gewesen. Nach Bidens öffentlichen verbalen Stolperern hatte sich die Debatte darüber immer weiter erhitzt, ob der 81-Jährgie noch „fit to serve“ sei – fit genug, seinem Land weiter als Präsident zu dienen. Die Empfehlungen zum Rückzug kamen dabei zuletzt von führenden Demokrat:innen. Dazu kam eine Covid-Erkrankung, die Biden zwang, sich vorübergehend aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Und die heroische Märtyrer-Erzählung von Donald Trump, der Joe Biden sicher nicht viriler hat wirken lassen. Welche Rolle die längst ikonisch gewordenen Bilder des angeschossenen und kampfbereiten Trump gespielt haben mögen, bleibt freilich Spekulation.

Schulterschluss gegen Trump

Fakt ist: Joe Biden hat den Weg frei gemacht für einen anderen Kandidaten der demokratischen Partei, wahrscheinlicher noch eine andere Kandidatin. Joe Biden selbst hat jedenfalls seine Stellvertreterin Kamala Harris als Ersatzkandidatin für die Präsidentschaftswahl im November vorgeschlagen. In den sozialen Medien erklärte der amtierende US-Präsident, es sei im Wahljahr 2020 seine beste Entscheidung gewesen, Harris als Vizekandidatin auszuwählen. Er spreche ihr daher seine volle Unterstützung aus, als Kandidatin der Demokraten bei der anstehenden Wahl anzutreten. Die Entscheidung darüber liegt jetzt bei Delegierten der Partei aus allen Bundesstaaten. Biden rief seine Anhänger noch am Sonntag dazu auf, für die Wahlkampagne von Kamala Harris zu spenden.

Für den Wahlkampf gegen den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump ist die Entscheidung Bidens Risiko und Chance zugleich. Als ersten Schritt versuchte er jedenfalls die durch die jüngsten Debatten stark verunsicherten Demokraten, zu einer geschlossenen Front zu einen: "Demokraten - es ist an der Zeit, zusammenzukommen und Trump zu schlagen."

Ob das mit Kamala Harris als Kandidatin gelingen kann, darüber herrscht bei den Demokraten (noch) keine Einigkeit. Während die einen ihre Nominierung als einzige Chance sehen, Bidens Kampagne nahtlos weiterzuführen – und damit die bereits eingelangten Spendengelder nutzen zu können –, sehen andere ein Risiko in der nicht gerade populären Vizepräsidentin.

Kamala Harris zeigte sich jedenfalls am Sonntag bereit, Joe Bidens Platz zu übernehmen: „Zusammen werden wir kämpfen. Und zusammen werden wir gewinnen.“

Einer hat seine Einschätzung der neuen Situation jedenfalls schon fertig: Donald Trump. Er meinte gegenüber dem US-Sender CNN, seiner Ansicht nach sei es leichter, Harris zu schlagen als Biden.

Historische Entscheidung

Am Zug sind jetzt die mehr als 4600 Delegierten der Nationalversammlung der Demokraten, eine Gruppe aus langjährigen Parteifunktionär:innen, lokalen Aktivist:innen und gewählten Vertreter:innen der Partei. Sie haben, analysierte die „New York Times“ am Parteitag von 19. bis 22. August eine historische Entscheidung zu treffen: Denn noch nie in der Geschichte der USA hat ein Präsidentschaftsbewerber so knapp vor der Wahl seine Kandidatur zurückgezogen.

Wer auch immer für die Demokraten ins Rennen gehen wird: Joe Biden hat vollsten Rückhalt für seine Entscheidung. Der einflussreiche Vorsitzende der demokratischen Fraktion im US-Senat, Chuck Schumer, erklärte, Biden habe sich als großartiger Präsident erwiesen. „Seine Entscheidung war natürlich nicht einfach, doch er hat erneut sein Land, seine Partei und unsere Zukunft an erste Stelle gesetzt", teilte er mit. „Joe, du zeigst heute, dass du ein echter Patriot und großer Amerikaner bist."

Diese US-Wahl wird auf jeden Fall als eine ganz außergewöhnliche in die Geschichte eingehen – und bis zur Wahlnacht spannend bleiben.

Judith Belfkih

Judith Belfkih

ist seit Juli 2024 Digital-Chefin bei profil. War davor in der Chefredaktion der „Wiener Zeitung“