Morgenpost

"Kein deutsches Wort mehr" - über die Entfremdung des Toni Polster

Der Sager der Fußball-Legende über Wien Favoriten ist kein Beleg dafür, dass die FPÖ recht hat. Aber womöglich dafür, dass es eine moderne Leitkultur braucht.

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"Wenn ich ab und zu zum Tichy (Eisgeschäft in Wien Favoriten, Anm.) gehe und das mache ich sehr gerne - ich bin ja da groß geworden - ist es schon so, dass man fast kein deutsches Wort mehr versteht. Das finde ich schade natürlich. Unsere Sprache darf nicht verloren gehen, unser Dialekt darf nicht verloren gehen." Der Sager der 60-jährigen Kicker-Legende Toni Polster in einer Reportage von "Servus TV" über die Kriminalität in Wien Favoriten war eine Steilvorlage für die FPÖ, die Parteichef Herbert Kickl umgehend verwertete. "Polster spricht KLARTEXT. Liebe Freunde! Ist das nicht traurig? Was ist nur aus Wien geworden?", postete er auf Facebook. Tausende Likes. Mediales Trommelfeuer.

Und dennoch ist Polster der falsche Zeuge dafür, dass die FPÖ schon immer richtig lag. Denn Polster lebt das, was durch Zuwanderung "aus Wien geworden ist" tagtäglich. Er ist Cheftrainer des Meidlinger Fußballclubs Wiener Viktoria, bei dem Kicker und Trainer aus 45 Nationen am Feld auflaufen. Quer durch alle Altersklassen - von Syrern, Afghanen, Serben, Türken, Tschetschenen bis zu Burgenländern. Polsters Nachsatz in der Favoriten-Doku - "Kinder sind unsere Zukunft" - bezog sich also auch ganz stark auf die Mohammeds, Ramazans und Ayshes dieser Stadt.

Polsters Integrationsformel 

Auf Nachfrage des profil-Morgenpostlers steht Polster dennoch zu seinem Sager. Wie passt das mit seinem Wirken zusammen? Sein Sager kann als Ausdruck für die Entfremdung älterer Wienerinnen und Wiener gegenüber ihrer Heimatstadt gewertet werden. Diesem Wien, das sich in den letzten zwei Jahrzehnten soziokulturell rasant verändert hat. So rasant, dass auf den Reumannplätzen der Stadt das abhanden gekommen ist, was die Menschen auf den Fußballplätzen zusammenhält: a) die gemeinsame Sprache (Deutsch), die gemeinsamen Werte (Fußballregeln), die gemeinsamen Vorbilder (Trainer und Spieler), das gemeinsame Sicherheitsgefühl (durch Disziplin, Zivilcourage, Integration). "Wenn ein Vater weibliche Trainer für seine Söhne ablehnt, sag' ich ihm: Sorry, aber dann sind Sie im absolut falschen Verein", gibt der Grün-Politiker und Viktoria-Funktionär, Hans Arsenovic, Einblick in die Integration à la Viktoria.

Das führt uns zur Frage, welche Spielregeln es für ganz Österreich braucht - gegen dieses Gefühl der Entfremdung und gegen die Angst, dass sich die Reumannplätze stärker ausbreiten als die Fußballplätze. Und das wiederum führt uns zur Frage einer Leitkultur.

Leitkultur und Wertekurs

Integrationsministerin Susanne Raab von der ÖVP hat die Debatte um eine Leitkultur eröffnet. Im Herbst wird gewählt. Deswegen ist ihr Vorstoß 100 Meter gegen den Wind als Versuch der ÖVP zu wittern, Wähler von der FPÖ zurückzuholen. Raab ist für Integrations- und Orientierungskurse verantwortlich, die über 100.000 Flüchtlinge seit 2015 seither besucht haben. Sie müsste ihre Leitkultur nur aus der Lade holen. Hat sie diese nicht griffbereit, fragt man sich: Wohin haben sich die Kursbesucher bisher orientiert? Und: Wenn die ÖVP unter Leitkultur "Tradition statt Multi-Kulti" versteht, wie mit Blaskapellen-Bildern unterstrichen, schließt sie nicht nur andere Parteien vom Leitkultur-Prozess aus, denen das zu ländlich ist. Sondern sie handelt sich auch einen Protest des Blaskapellenvereins ein (tatsächlich so passiert).

Die Integration der Autochthonen

Und doch ist es womöglich höchst an der Zeit, es für eine moderne Leitkultur polstern zu lassen. Dafür müsste die ÖVP die Debatte aber für alle Parteien öffnen und nicht auf ihre eigene Kernklientel verengen. (Bitte meine Kolleg:innen mitzudenken, die jetzt "Leitkultur, nein, danke!" rufen und das klug begründen können. Diese Meinungsvielfalt macht profil aus).

Integration ist keine Einbahnstraße. Sie sollte auch die angestammte oder längst angekommene Bevölkerung mitnehmen, die nicht im Dachgeschoss oder Speckgürtel der Städte lebt. Wenn die Politik klar sagt, was für Zuwanderer gilt und auf allen Ebenen einfordert, kann sie das Vertrauen in die Zukunft des Einwanderungslandes Österreichs (das es de facto längst ist) zurückgewinnen. Die Neos haben das offenbar erkannt. "Wir stehen in einem Kampf mit religiös-autoritären Systemen, denen sich ein Teil der Zuwanderer zugehörig fühlt", sagt Wiens Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr im profil-Interview. Wer könnte da noch die Notwendigkeit abstreiten, bei der Integration verstärkt Tacheles zu reden?

Hürden zum "neuen Wiener" 

Und auch das rote Wien sollte sich nicht so leicht auf das Argument zurückziehen, es gebe Gesetze, an die sich alle halten müssen. Der Rest sei gute Sozialpolitik. Fertig. Denn dann verrät die SPÖ ihre Gründungsideale. Die austromarxistische Utopie vom "neuen Menschen" hatte den gesellschaftlichen Aufstieg der Arbeiterinnen und Arbeiter durch Emanzipation, Antiklerikalismus, Partizipation und Bildung zum Ziel. Im Wien des 21. Jahrhunderts sind Migranten das "neue Proletariat", sagte Ex-Bürgermeister Michael Häupl. Wenn traditionelle Rollenbilder, die muslimische Migranten mitbringen, dem Werden der "neuen Wienerin" und des neuen "Wieners" heute entgegenstehen; wenn Religion für zu viele Zuwanderer wichtiger als Teilhabe und Gleichberechtigung ist; wenn "Österreich" für Kinder und Jugendliche zum abstrakten Begriff verkommt, weil man außerhalb der Communities nur noch über Klassenlehrer damit in Berührung kommt; dann reicht Sozialpolitik für alle nicht mehr. Dann kann es der SPÖ nicht egal sein, was in den migrantischen Wohnzimmern oder auf den TikTok-Kanälen der Jugendlichen abgeht. Dann muss auch wieder um gemeinsame Werte gerungen werden. Frei nach dem Motto der 1968er: Das Private ist politisch und das Politische ist privat.

Willkommen in der Grauzone

Polsters Favoriten-Sager und sein tägliches Wirken spiegeln den Graubereich in der Migrationsdebatte wider. Zwischen Schwarz und Weiß. Hier spielt die Blasmusik. In einem Land, das durch seine Multi-Kulti-Fußballmannschaften genauso zusammengehalten wird, wie durch seine Bauten aus der europäischen Multi-Kulti-Habsburger-Zeit. Das durch türkische Gastarbeiter verstärkt muslimisch wurde und durch die Ausweitung der Zuwanderungszone auf Syrien bis Somalia nun nicht mehr ganz mitkommt mit der eigenen Geschichte. Das zur westlich-liberalen Wohlstandsdemokratie avancierte und so Zuwanderer anzog, dessen Grundwerte in so manches migrantische Wohnzimmer sprachlich und kulturell aber nun nicht mehr vordringen. Das sein jüngeres, liberales Erbe wieder verlieren könnte, wenn diese Wohnzimmer zu viel werden und das Gefühl dominant wird: Das geht sich alles nicht mehr aus. Das könnte der "illiberalen Demokratie" die Türe öffnen, die beim ehemaligen K.u.K.-Nachbarn Ungarn vorherrscht. 

Was Wien bei der Integration alles zu schultern hat, haben wir in unserer Cover-Story vor einer Woche aufgezeigt. Das Aufstellen von Container-Klassen und das Bereitstellen von Übergangswohnungen für syrische Familien wird langfristig nicht reichen. 

Auch wenn Wahljahr ist: Was Polster mit seinem Nebensatz angestoßen hat, verschwindet nicht in politischen Gräben.

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.