Vor der Wahl ist nach der Wahl
Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Natürlich ist die niederösterreichische Landtagswahl, die am kommenden Sonntag geschlagen wird, keine Bagatelle. Sie fühlt sich heuer, in diesem noch jungen Jahr 2023, in dem man sich schon ein wenig an die multiple Krisenhaftigkeit der Welt (Krieg in Europa, Klima, Pandemie) gewöhnt hat, sogar seltsam bedeutend an. Das liegt nicht nur an den notorisch schlechten Umfrage- und Beliebtheitswerten der türkis-grünen Regierung, sondern auch an dem Umstand, dass die Opposition aktuell nicht mehr von Pamela Rendi-Wagner (SPÖ), sondern vom Freiheitlichen Herbert Kickl angeführt wird. Überraschend ist der aktuelle Höhenflug der FPÖ freilich nicht; er hat sich bereits seit gut einem Jahr in der monatlichen Sonntagsfrage abgezeichnet (nachzuhören im profil-Podcast mit Meinungsforscher Peter Hajek). Die Wahl in Niederösterreich, die wir auf profil.at am Sonntag mit Videoanalysen, Meinungsstücken und Podcasts begleiten werden, ist ein Gradmesser für die kommenden Nationalratswahlen. Spoiler: Auch im Heimatland der ÖVP ist mit starken FP-Zugewinnen zu rechnen.
Und das bringt uns gleich zu Van der Bellen: Meine Kolleg:innen Lena Leibetseder und Maximilian Mayerhofer haben die neuerliche Angelobung von Bundespräsident Alexander Van der Bellen (kommt Ihnen die BP-Wahl auch Lichtjahre entfernt vor?) gestern live vom neuen/alten Parlament verfolgt und uns mit (Instagram-)Eindrücken versorgt; den Backstage-Bericht können Sie sich als Reel und auf TikTok ansehen. Dass die zweite Amtszeit des 79-Jährigen ruhiger verlaufen wird als die erste, bleibt wohl ein frommer Wunsch. Eva Linsinger und Christian Rainer geben im aktuellen Politik-Podcast („Wie hält er’s mit der FPÖ?“) nicht nur einen Rückblick auf die krisenhafte erste Amtsperiode, sondern stellen sich lieber die Frage, wie Van der Bellen aktuell zur FPÖ steht: Wie würde er mit einem möglichen Wahlsieger Herbert Kickl umgehen? Würde dieser den Auftrag zur Regierungsbildung bekommen? Fragen, über die man besser heute als morgen nachdenken und diskutieren sollte.
Auslandsreporterin Franziska Tschinderle, gegenwärtig in Albanien stationiert, arbeitet derweil an einer größeren Geschichte über den Kosovo und den Konflikt mit Serbien (die Sie ab Samstag in print oder als E-Paper nachlesen können) und hat mit dem Südosteuropa-Experten Florian Bieber von der Universität Graz einen ausführlichen Podcast zur Lage des kleines Balkanlandes aufgenommen. Bieber erklärt, warum der Kosovo-Konflikt bis heute schwelt, was beide Seiten wollen und ob es einen Kompromiss geben kann. Ich sage: dringliche Hörempfehlung!
Und jetzt zur Kultur – und ein wenig Wochenend-Eskapismus. Ich möchte Ihnen, liebe Leserinnen, lieber Leser, noch ein kurzweiliges Buch – nein: ein Sammelsurium an Popkultur-Miniaturen und -Fundstücken ans Herz legen. Der britische Musiker Jarvis Cocker, bekannt geworden in den Neunzigern mit der Band Pulp, hat ein Buch über „die Dinge seines Lebens“ veröffentlicht.
Vielsagender Titel: „Good Pop, Bad Pop“ (erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch). Und Cocker macht, was eben nötig ist, wenn man nicht mehr ganz so jung ist und sich von unnötigen Erinnerungen trennen sollte: Der heute 59-Jährige, der lange in Paris gelebt hat, mistet seinen Londoner Dachboden aus (auch wenn es eher nach einem Verschlag aussieht) und nimmt uns mit auf eine Britpop-Zeitreise; er findet alte Kaugummi-Packungen, Modeskizzen, aber auch kaputte Brillengestelle und Kassetten. Und jeder Gegenstand erzählt eine Geschichte, egal, ob er ihn am Ende behalten oder lieber weggeben will. Denn Cocker erzählt hier, zwischen unzähligen Fotos und Zeitungsausschnitten, nicht nur seine eigene (Punkrock-)Sozialisation, sondern auch eine universelle Coming-of-Age-Geschichte, in der sich jeder, der noch ein wenig Jugend im Herzen hat, wiederfinden kann. Bittersweet ist die Erkenntnis dieses Buchs: Alles geht so schnell und kommt nie wieder. Was bleibt? Das Hier und Jetzt.
Ein erholsames Wochenende wünscht Ihnen
Philip Dulle