Marxismus light
In der Erwartung eines Shitstorms in den Sozialen Medien hatte ich für die aktuelle Print- und E-Paper-Ausgabe von profil einen Text über „Staatskapitalismus“ in Wien geschrieben beziehungsweise über Wien als Bastion eben dieses Wirtschaftsmodells. Ich hatte erwartet, man würde mir Eitelkeit vorwerfen, weil ich nach einem Leitartikel, in dem ich von einem Zusammentreffen (vulgo Zusammenkrachen) mit Bundeskanzler Wolfgang Schüssel vor 21 Jahren nun über eine ebensolches mit der damaligen Stadträtin Renate Brauner ebenso vor zwei Jahrzehnten geschrieben hatte. Vor allem hatte ich erwartet, man würde mir Manchesterliberalismus andichten, weil ich nicht davon überzeugt bin, dass das Alleineigentum der Bundeshauptstadt an so gut wie allen Versorgungsbetrieben der Weisheit letzter Schluss sei. (Ist die Wiener Stadthalle – Tochter der Wien Holding – eigentlich ein Versorgungsbetrieb, deren Funktionstüchtigkeit im Krisenfall unbedingt aufrechterhalten werden muss?) Im Grunde hatte ich der Stadt Wien also Kolchosenwirtschaft vorgeworfen, Marxismus light.
Und Twitter ist ja nicht durchgängig ein Zentralorgan des Manchesterliberalismus.
Niemand steht dem Bürgermeister bei
Doch es geschah – nichts. Ich fürchte, die Eitelkeit wird mir inzwischen als Altersweis- und starrheit nachgesehen (die ursprüngliche Variante wäre mir lieber). Aber warum keine angriffigen Verteidigungspamphlete für die lebenswerteste (warum wird hier stets ein Superlativ verwendet, den die Grammatik gar nicht zulässt?) Stadt der Welt (in der auch ich sehr gerne lebe)? Möglicherweise lag ich mit der Vermutung falsch, die Menschheit hätte die Verstaatlichten-Pleiten der 1989er- und 1990er-Jahre vergessen. Möglicherweise ist die Frustration über das politische Personal inzwischen so groß, dass nicht einmal mehr die im Normalbetrieb gut funktionierende Stadtverwaltung verteidigt wird. Sicher aber: Die Kommunikation rund um die Gebarung der Wien Energie war so skandalös, dass niemand für Bürgermeister und Stadtrat ausrücken wollte: Verschweigen der Probleme über Monate, Zweckentfremdung einer Notverordnung, letztsekündliches Rettungsgesuch an die Bundesregierung, ex post arrogante Kooperation mit dem politischen Gegner.
Über's Wochenende erhielt ich Zuspruch (auch in Form von Schadenfreude aus dem sozialdemokratischen Lager). Gelobt wurde – vor allem von Bankern und Finanzvorständen – der Text von Christina Hiptmayr und Stefan Melichar, weil (Zitat eines CEO´s) nur die beiden verstanden hätten, „dass hier Futures gehandelt wurden, um Liquidität zu schaffen“.
Die Zukunft der Futures
Wie geht es da weiter? Im Club 3, dem gemeinsamen TV-Talk von profil, „Kurier“ und „Kronen Zeitung“ waren wir ChefredakteurInnen uns am vergangenen Freitag nur teileinig. Wir vermuten unisono, dass die Affäre der FPÖ nutzen wird. Ich denke aber, dass nicht nur die SPÖ Schaden nehmen wird, sondern auch die Volkspartei oder sogar die Grünen: Die Sozialdemokratie wird weiter mit Dreck werfen, sodass am Ende auch die Bundesregierung als verantwortlich gesehen wird. Ich denke, dass die österreichische Bevölkerung am Ende nicht einmal mehr in Moskau nach den Schuldigen für die hohen Energiepreise suchen wird aber in Wien am Ballhausplatz. Martina Salomon und Klaus Herrmann hingegen meinen, dass die SPÖ alleine ihr Fett abbekommen wird.
Mit Spannung erwarten wir die nächsten Umfragen.
Einen schönen Tag wünscht Ihnen Ihr
Christian Rainer
Herausgeber und Chefredakteur