Morgenpost

Medizin-Nobelpreis 2024: Wie die Genfunktion gesteuert wird

Die beiden Preisträger fanden heraus, wie Nerven- und Muskelzellen entstehen – durch winzige Moleküle, die auch bei Krankheiten wichtig sind.

Drucken

Schriftgröße

Es ist immer wieder faszinierend, dass es Menschen gelingen kann, die enorm komplexen Abläufe jener Miniaturwelten zu verstehen, die den Kosmos wie auch den menschlichen Körper dirigieren; dass sie das feine Räderwerk im Inneren der Materie ebenso entschlüsseln wie innerhalb der Körperzellen. Für diese beeindruckenden Leistungen werden regelmäßig Nobelpreise vergeben: Im vergangenen Jahr war dies die Erforschung der mRNA durch die Biochemikerin Katalin Kariko, die herausfand, wie man eine Art molekulare Botschaft verfasst und an Körperzellen verschickt, um diesen die Herstellung bestimmter Proteine zu befehlen. 2022 erhielt der Österreicher Anton Zeilinger den Nobelpreis, der für seine Experimente die Phänomene der Quantenwelt nutzte (siehe dazu auch das Interview mit Zeilinger im aktuellen profil).

Gestern Vormittag wurden in Stockholm die diesjährigen Preisträger der Kategorie Medizin oder Physiologie bekannt gegeben (traditionell jedes Jahr der erste Preis, gefolgt von Physik, Chemie und Literatur an den Tagen darauf). Die Ehrung ging heuer an Victor Ambros, 71, Professor an der Massachusetts Medical School, und Gary Ruvkun, 72, Professor an der Harvard Medical School.

Das Geheimnis der Genregulierung

Ihre bahnbrechende Entdeckung publizierten die beiden Forschenden im Jahr 1993: Sie stießen auf eine neue Klasse der Ribonukleinsäure (RNS oder Englisch RNA für Ribonucleic acid)), die nun microRNA heißt. Dabei geht es um nicht weniger, so die Begründung des Nobel-Komitees, als um die Frage, „wie Organismen entstehen und funktionieren“.

Die Ausgangsfrage war knifflig und lautete: Jede unserer Körperzellen beinhaltet exakt denselben Satz Gene. Wie also kommt es, dass sich ganz präzise verschiedene Zelltypen entwickeln, beispielsweise Muskelzellen oder diverse Arten von Nervenzellen? Und wie gelingt es dem Körper, dass genau die gewünschten Gene aktiv sind und somit ihren Job erfüllen?

Die Antwort lautet: Es ist eine Frage der Genregulation. Und dabei spielt microRNA eine entscheidende Rolle, wie Ambros und Ruvkun an Studien am Fadenwurm C. elegans herausfanden, dem neben der Fruchtfliege liebsten Labortier der Wissenschaft.

Einfluss auf die Bausteine des Lebens

Mitte der 1980er-Jahre begannen die beiden, damals an der Harvard University und am Massachusetts General Hospital, nach jenen Mechanismen zu suchen, die gleichsam aus Alleskönnern spezielle Zelltypen mit konkreten Funktionen machen. Dabei entdeckten sie schließlich die microRNA, winzige RNA-Molkeüle, die sich an mRNA-Sequenzen (genau, für die voriges Jahr der Nobelpreis vergeben wurde) anlagern. Die Genfunktion wird dabei getriggert, indem microRNA die Proteinbildung beeinflusst – und Proteine sind immerhin die zentralen Bausteine allen Lebens.

Man geht heute davon aus, dass an die 60 Prozent aller Gene durch microRNA-Moleküle beeinflusst werden, besonders im Gehirn. So besteht denn auch die Annahme, dass die winzigen Moleküle an der Entstehung von Krankheiten wie Depressionen beteiligt sind – in Übereinstimmung mit der Beobachtung, dass zwar alle Menschen dieselbe genetische Ausstattung besitzen, doch nur manche Personen Depressionen oder andere psychische Erkrankungen entwickeln. Auch an der Krebsentstehung dürfte microRNA beteiligt sein, wenn bei den sensiblen molekularen Prozessen Fehler passieren.

Der Medizin-Nobelpreis 2024 würdigt somit eine Entdeckung, die fundamentale Einblicke in die Funktionsweise des Lebens gewährt und künftig auch Basis für neue Therapeutika sein könnte.

Im Lauf des Vormittags werden wir wissen, ob auch der diesjährige Physik-Nobelpreis für Forschungen vergeben wird, die tief in den Maschinenraum unserer Welt blicken.

Alwin   Schönberger

Alwin Schönberger

Ressortleitung Wissenschaft