Morgenpost

Mit der „Panzerfaust“ gegen Orbán

Im Streit mit Ungarn um die Ukraine-Hilfen hat die EU den Spieß umgedreht und erpresst nun Viktor Orbán – möglicherweise mit Erfolg.

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Wie soll Brüssel mit einem Mitgliedsland umgehen, das die Regeln und Werte der Europäischen Union bricht? Was ist zu tun, wenn eine einzige Regierung die restlichen EU-Staaten erpresst, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen? An einer befriedigenden Antwort auf diese Fragen scheitert Brüssel seit Jahren. Obwohl in der EU strenge Regeln zur Rechtsstaatlichkeit herrschen, baut Ungarns Premier Viktor Orbán die Demokratie in seinem Land ab. Und während sich die EU im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine unmissverständlich auf die Seite Kyivs (Kiews) stellt, pflegt Orbán nach wie vor gute Kontakte nach Moskau, Wladimir Putin bezeichnet er als Freund.

Was das in der Praxis bedeutet, hat sich zuletzt beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs Mitte Dezember gezeigt. Ungarn legte ein Veto für die Freigabe eines 50 Milliarden Euro schweren Hilfspakets für die Ukraine ein. Seine Zustimmung wollte sich Orbán teuer erkaufen lassen: Zuerst müssten die EU-Gelder an Budapest freigegeben werden, die Brüssel wegen Vergehen gegen die Rechtsstaatlichkeit eingefroren hatte.

Genug ist genug

Damit Budapest beim Sondergipfel am 1. Februar endlich grünes Licht gibt, haben die anderen Hauptstädte nun offenbar schwere Geschütze aufgefahren. Wie die britische „Financial Times“ berichtet, will die EU Ungarns Wirtschaft sabotieren, sollte Orbán den Weg für die geplanten Ukraine-Hilfen nicht freimachen. Aus einem internen Papier gehe hervor, dass künftig alle EU-Gelder an Budapest zurückgehalten werden könnten – mit schweren Folgen für das Wirtschaftswachstum, die Landeswährung und das Vertrauen der Märkte in Ungarn.

„Damit signalisiert Europa: genug ist genug“, zitiert die Zeitung einen Experten. „Ihr habt vielleicht die Pistole, aber wir haben die Panzerfaust“.

 

Ungarn signalisiert Kompromissbereitschaft

Die Drohgebärde der EU könnte funktioniert haben. Man sei nun offen dafür, dem Hilfspaket für die Ukraine zuzustimmen, hieß es gestern aus Budapest. Der Vorwurf der Erpressung, den Ungarn nun an Brüssel richtet, mag in Anbetracht der Geschichte absurd erscheinen, immerhin war es bisher Budapest, das den restlichen Mitgliedstaaten die Pistole an die Brust setzte. Doch einem Mitgliedsland mit der Zerstörung der heimischen Wirtschaft zu drohen, gehört auch nicht gerade zum Standardrepertoire der Diplomatie.

Die schweren Geschütze zeigen, dass in Brüssel mittlerweile einige bereit sind, im Streit mit Ungarn bis zum Äußersten zu gehen. Ein Vorgehen, wie es im nun durchgestochenen Papier beschrieben wird, ist dennoch unwahrscheinlich. Die für Orbán größte Gefahr liegt im sogenannten Artikel-7-Verfahren. Budapest droht im schlimmsten Fall der Entzug des Stimmrechts, doch die übrigen Mitgliedstaaten zögern, diese „nukleare Option“ einzusetzen.

Die disruptive Macht Orbáns liegt darin, dass es bei vielen Entscheidungen die Zustimmung aller Mitgliedstaaten braucht. Deutschland und Frankreich fordern, das Einstimmigkeitsprinzip einzuschränken, damit künftig mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden können. Doch für eine solche Reform bräuchte es wieder die Zustimmung aller Mitgliedsländer.

 

Alleine gegen alle

Es ist ein Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Sollte Orbán beim Gipfel am Donnerstag erneut ein Veto einlegen, könnten die restlichen 26 Mitgliedstaaten dennoch voranschreiten – und die Ukraine-Hilfen ohne Ungarn beschließen, also außerhalb des EU-Finanzrahmens. Es wäre nicht besonders elegant, aber immerhin eine Lösung.

Wahrscheinlich könnte auch Orbán damit leben. Zu Hause in Ungarn würde er seine Standhaftigkeit als Erfolg verkaufen. Alleine gegen die EU, einer gegen Alle, das ist das Bild, das Orbán von sich zeichnet. 

Den restlichen Mitgliedstaaten dürfte die Angelegenheit einmal mehr die eigenen Schwächen vor Augen geführt haben. Oder, wie ein Diplomat es gegenüber profil formuliert: „Die Zeiten, wo alle an einem Strang ziehen, sind vorbei.“

Man kann es auch so sehen: Womöglich ist die Zeit für die „nukleare Option“ gekommen. 

Siobhán Geets

Siobhán Geets

ist seit 2020 im Außenpolitik-Ressort.