Morgenpost

Opferrolle rückwärts

Warum sich die steirische ÖVP zu Unrecht als „Bauernopfer“ darstellt – und weshalb Österreich vielleicht gar nicht so skandalmüde ist, wie manche glauben.

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Es ist ein Satz für die steirischen Geschichtsbücher: „Ich komme mir heute ein bisschen wie das Bauernopfer der Republik vor“, ließ Noch-Landeshauptmann und ÖVP-Landeschef Christopher Drexler nach der herben Wahlniederlage am Sonntagabend seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter wissen. Schuld am Verlust von mehr als neun Prozentpunkten bei der Landtagswahl wäre demnach die „Bundespolitik“ gewesen. Wobei Drexler kaum Zweifel daran ließ, was er konkret damit meinte: nämlich den Umstand, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen nicht FPÖ-Obmann Herbert Kickl als Chef der stimmenstärksten Partei mit der Regierungsbildung auf Bundesebene beauftragt hat.

Nun ist es ganz sicher so, dass es Wählerinnen und Wähler gibt, die das Vorgehen des Bundespräsidenten als unfair empfinden. Es wird wahrscheinlich auch so sein, dass die FPÖ das zu nutzen verstanden hat, um die eine oder andere zusätzliche Stimme zu holen. Aus diesem blauen Opferrollen-Vorteil in der Folge einen türkisen Opfermythos zu konstruieren, ist dann aber vielleicht doch ein wenig weit hergeholt. Es ist ja nicht so, als hätte die steirische ÖVP bis zum Regierungsbildungsauftrag auf Bundesebene blühende Zeiten erlebt.

Ein weiterer Mythos, der mit dem steirischen FPÖ-Erdrutschsieg neues Leben erhält, ist jener, dass Skandale den Blauen nichts anhaben können. Auf den ersten Blick hat das schon etwas für sich: Schließlich gibt es die Finanzaffäre der Grazer FPÖ, die durchaus auch in die Landespartei hinüberspielt – profil berichtete. Warum schlägt sich diese nicht spürbar im Wahlergebnis nieder?

Nicht immun gegen Affären

Der Autor dieser Morgenpost berichtet seit vielen Jahren über diverse Skandale und Skandälchen. Tatsächlich lässt sich schon aus der historischen Betrachtung nicht sagen, dass Rechtspopulisten immun gegen Affären wären. 2013 feierte die Kärntner SPÖ bei der dortigen Landtagswahl einen Erdrutschsieg, die Freiheitlichen (damals: FPK) erlebten einen Absturz, den es in der Zweiten Republik so noch nie gegeben hatte. Gründe dafür waren nicht zuletzt der Skandal um die Hypo Alpe Adria und zahlreiche andere Affären, die irgendwann einmal ein Maß erreicht hatten, dass die Stimmung in der Bevölkerung kippen ließ. Und es gibt auch noch ein jüngeres Beispiel: 2019 erlebte die FPÖ bekanntlich nach dem Ibiza-Skandal veritable Wahlniederlagen.

Wo liegt der Unterschied zur Steiermark im Jahr 2024? Der Hypo-Skandal hatte eine völlig andere Dimension als die Grazer-Finanzaffäre – ohne Letztere damit verharmlosen zu wollen. Und das Ibiza-Video mit dem darin sehr unmittelbar transportierten problematischen Politikverständnis des blauen Spitzen-Personals war natürlich viel eindringlicher als eine juristische Causa um komplizierte Geldflüsse je sein kann.

Dazu kommt, dass sowohl der Hypo-Skandal als auch das Ibiza-Video von der politischen Konkurrenz massiv aufgegriffen wurden. Teilweise gab es unmittelbare Konsequenzen – und zwar schon vor den darauf folgenden Wahlen. Der damaligen ÖVP-Kanzler Sebastian Kurz schickte nach Ibiza immerhin den blauen Innenminister Herbert Kickl in die Wüste – und riskierte dadurch sehenden Auges seine Koalition mit den Freiheitlichen. So etwas hat Gewicht und signalisiert auch den Wählerinnen und Wählern, dass eine Affäre tatsächlich Relevanz hat.

Mythos „Skandalmüdigkeit“

Wenn mitunter von einer „Skandalmüdigkeit“ in der Bevölkerung gesprochen wird, stellt sich die Frage, warum die Politik ihrerseits problematische Themen nicht immer mit entsprechendem Verve aufgreift. Manchmal spielen strategische Fehleinschätzungen eine Rolle: Die FPÖ wurde nach dem Ibiza-Skandal von manch anderen Parteien rasch wieder salonfähig gemacht. Die Idee war offensichtlich, dass man in parlamentarischen U-Ausschüssen mehr erreichen kann, wenn man gemeinsam ÖVP-Skandale aufdeckt. Diese Enthüllungen waren zweifellos berechtigt. Möglicherweise gerieten die freiheitlichen Affären dabei aber stärker in den Hintergrund als notwendig. Wie sich jetzt herausstellt, haben davon aber nur die Blauen profitiert.

Und eines steht natürlich auch fest: Wer anderen auf der politischen Bühne Skandale vorwerfen will, braucht selbst eine blütenweiße Weste. Gerade die Steiermark-Wahl ist eigentlich das beste Beispiel gegen die angebliche Skandalmüdigkeit in Österreich. Drexler hat am vergangenen Sonntag auch die Rechnung für die massiven ÖVP-Skandale der Kurz-Ära präsentiert bekommen. Insofern hat der Noch-Landeshauptmann gar nicht so Unrecht, wenn er auf die „Bundespolitik“ verweist. Die in diesem Fall wirklich relevante Bundespolitik wurde aber nicht in der Hofburg vom Präsidenten gemacht, sondern in der ÖVP-Zentrale in der Wiener Liechtenfelsgasse. Und dort hätte die steirische ÖVP im Laufe der Jahre ja durchaus einen gewissen Einfluss entwickeln können. Bleibt der Eindruck: Mit der Opferrolle rückwärts wird auch in Zukunft eher kein Staat zu machen sein.

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ).