Parallelwelten zwischen Wiener Untergrund, Eichgraben und Klagenfurt
Von Clemens Neuhold
Wenn Heavy TikTok-User in der Wiener U-Bahn sichtbar durch ihr Profil fetzen, kostet es mich viel Überwindung, nicht in ihr Handy zu spechteln. Faszinierend das Tempo, in dem sie Kurzvideos mit Likes markieren, um den Algorithmus auf ihre Vorlieben zu trainieren. Und in welchen Parallelwelten Sitznachbarn so unterwegs sind. Am Wochenende hätte man vermuten können, dass die hektische Suche nach neuen Infos über den vermeintlichen Putschversuch der russischen Wagner-Söldner gegen ihren Präsidenten, Vladimir Putin, die Smartphones dominieren. Doch selbst die spektakulärsten weltpolitischen Events lassen Menschen in ihrem Alltag außerhalb journalistischer oder politischer Blasen oft erstaunlich kalt. Wer auf fremde Handys spechtelte, kam eher mit der Welt der Schönheits-OPs in Berührung, die Beauty-Influencerinnen zur Schau stellen. Oder der Welt des Kampfsports in Form spektakulärer Knock-Outs in den Mixed-Martial-Arts-Käfigen dieser Welt.
Leberhaken in Eichgraben
Gut möglich, dass Andrew Tate am Handy auftaucht. Der in Rumänien lebende Ex-Kickboxstar ist heute eine Ikone der toxischen Männlichkeit. Seine Frauenverachtung zelebriert er auf millionenfach geklickten Videos. Wie Kollegin Elena Crisan schrieb, ist er zum Islam konvertiert. Er bezeichnet Dschihadisten des IS als „gute Muslime“ und schätzt die Taliban. Wer regelmäßig in Wien U-Bahn fährt, steht oder sitzt mit hoher Wahrscheinlichkeit neben pubertierenden Tate-Fans.
Martialische Parallelwelten können sich auch in idyllischen Wienerwald-Gemeinden wie Eichgraben auftun, wenn – wie Kollege Moritz Ablinger beschreibt – Anhänger der rechtsextremen Identitären im Turnsaal zwischen Einfamilienhäusern Leberhaken austeilen. Der ÖVP-Bürgermeister tänzelte sich mit einer Ansprache vor dem Kampf aus der Affäre. Er sagte, dass Spitzensport mit Politik nichts zu tun habe. Von politischen Statements sei abzusehen. Hier lesen.
Paralleluniversum Kärnten
Einem Paralleluniversum in der Justiz widmet sich Chefredakteurin Anna Thalhammer in der aktuellen Cover-Story. Die Staatsanwaltschaft Klagenfurt hatte dem Investigativ-Journalisten Franz Miklautz das Handy abnehmen lassen und provozierte damit einen Shitstorm der Sonderklasse. Justizministerin Alma Zadić fing den Kärntner Planeten wieder ein und ließ das Verfahren gegen den Journalisten einstellen. Thalhammer arbeitet in ihrem Essay heraus, wie absurd es ist, dass eine Staatsanwaltschaft die Abnahme von Handys einfach ohne richterliche Genehmigung anordnen kann. „Das Smartphone dokumentiert unser ganzes Leben“, sagt sie aus persönlicher Betroffenheit. Auch ihr sollte 2019 nach Aufdeckerstories über den Geheimdienst BVT das Handy abgenommen werden. Hier lesen.
Amtshimmel statt Amtsschimmel
Wenn die Welt der heimischen Amtsstuben als Parallelwelt wahrgenommen wird, hat dazu wesentlich die Satire-Serie MA2412 beigetragen. Doch für eine wachsende Zahl an Menschen wurde der vermeintliche Amtsschimmel im Vergleich zur Privatwirtschaft ein Amtshimmel. Kollege Gernot Bauer und ich haben fürs aktuelle profil Umsteiger porträtiert und erzählen, was hinter den nie dagewesenen Personaloffensiven der öffentlichen Hand steckt.
Der Parallelwelt russischer Wagner-Söldner konnten wir uns nicht mehr widmen. Anführer Jewgeni Prigoschin begann seinen Marsch auf Moskau erst nach Redaktionsschluss. Dafür war der stellvertretende Chefredakteur Robert Treichler auf profil.at mit einer Express-Einordnung zur Stelle, die trotz Prigoschins Einlenken nichts an ihrer Gültigkeit verloren hat.