Pimmel und Blättertreiben
Kalendarisch ist die Sache klar: Heute ist Herbstbeginn, die Zeit der von kriechender Kälte angeknabberten Körperextremitäten und des Farbenrauschs in Wald und Wiese. Die Tage beginnen sich langsam hinter den Nächten zu verstecken, der Vorhang muss die Nachmittagssonne nicht mehr aussperren, der Herbstbeginn-Begleitsatz, wonach bis Jahresende nur mehr 99 Tage bleiben, bringt unerquickliche Statistik ins Spiel. Tenor des alten Liedes: Jetzt geht’s sanft rumpelnd bergab, irgendwie und sowieso.
Früher, in der sicherlich auch nicht so guten und großen Zeit, war Ende September zumindest mächtige Schwärmerei und noch größeres Wehklagen an der Tagesordnung. „Es kann nicht immer Sommer sein!“, entschied der Dichter Hesse. „Der Herbst ist der Striptease der Flora“, erkannte der deutsche Radrennfahrer und Jahreszeiten-Aphoristiker Willy Meurer. „Ach, alles was hold und lieblich“, beklagte der Poet Heinrich Heine, der die Wirklichkeit bekanntermaßen stets mit den passenden Worten absteckte: „Verwelkt und sinkt ins Grab.“ Nicht zu reden vom ewig verhinderten Hausbaumeister Rilke, der mit wattierter Stimme und elegischer Milde vom Blättertreiben spricht.
Von den poetischen und erst recht philosophischen Dimensionen des Themas kann keine Rede mehr sein. Der Herbst als solcher muss einer späteren, gründlichen Erörterung überlassen werden. Hier und jetzt gibt es nämlich genug zu bedenken. Unangenehme Fragen stehen im Raum, in herbstlicher Sturmtiefstärke brechen diese herein. Überdies kennt kein Mensch die Antworten auf die großen Fragen der anbrechenden Jahreszeit, was am Ende der reinste Irrwitz ist.
Wie also um Himmels willen kommt US-Präsident Joe Biden auf den Gedanken, die Pandemie sei vorbei? Wie lange werden Herr Putin und seine Brutalo-Entourage die Welt noch in der Brechzange ihres kulminierten Größenwahns eingeklemmt halten? Wer weiß, wann es ein Ende damit haben wird, dass so gut wie jede Überlegung, ob man die drei Minuten länger unter der warmen Dusche stehen bleibt oder den Heizkörper in der herbstklammen Kammer andreht, dass also und vor allem wie lange noch jeder Gedanke an Wärme mit dem dazu zwangsimaginierten Putin’schen Palatschinken-Gesicht einhergeht? „Putin, du Pimmel“, schmetterten ukrainische Soldaten in einer kürzlich gesendeten TV-Dokumentation über den Krieg in Osteuropa.
Viele Fragen, kaum Antworten. Vielleicht diese eine. Der Herbst kommt, komme, was wolle. Nichts ist ihm so gleichgültig wie das Schicksal der spaßigen Zweibeiner, die sich das Leben gern gegenseitig zur Hölle machen.
Einen schönen Herbstbeginn
Wolfgang Paterno