Comeback-Kern
Kanzler erklären am Cover die Welt. Soweit so normal. Nur gibt am aktuellen profil-Cover nicht der amtierende Regierungschef, Karl Nehammer, den Erklärbären, sondern SPÖ-Altkanzler Christian Kern. Ein Ausstieg aus russischem Gas wäre ein „völlig unkalkulierbares Risiko“ warnt der 56-Jährige Hoffnungsträger a.D. der SPÖ - im scharfen Kontrast zum langjährigen Chef der E-Control, Walter Boltz. Der ist überzeugt: „Ein Gasembargo könnte den Krieg beenden.“
Kern am Cover, das nährt Gerüchte. „Wohin will Kern mit dieser durchgetakteten Öffentlichkeitsattacke?“, fragt der langjährige KURIER-Herausgeber und Chefredakteur, Peter Rabl, auf Twitter. Spricht man Kern auf ein mögliches Polit-Comeback an, verweist er in Interviews auf die Verpflichtungen gegenüber seinem Hund. Das ist mehr Kokettieren als Dementieren. SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner braucht sich dennoch nicht zu fürchten. Kern hat parteiintern zu viel verbrannte Erde hinterlassen. Und Rendi-Wagner hat in Umfragen erstmals Boden unter den Füßen. Die SPÖ führt stabil, weil die ÖVP so fragil ist.
Warum dann nicht Rendi-Wagner am Cover, oder Nehammer, oder die grüne Energieministerin Leonore Gewessler? Weil sie zum Gas-Ausstieg keine offensiven Positionen und Visionen vertreten. Wir hätten sonst fix angeklopft. Kern, der frühere Vorstand im Verbund, der jetzt als Privatier in Erneuerbare Energie macht, füllt dieser Tage ein Informations-Vakuum. Wenn es zu komplex wird, mit griffigen Bildern. „Sie stehen auf einer brennenden Plattform und zünden ein Fass Öl an“, richtet er Boltz aus. So geht politische Kommunikation.
Kern ist nachgefragt, auch von uns. Er muss die Öffentlichkeit gar nicht erst „attackieren“, wie Rabl vermutet. Kern gibt den Austro-Habeck, weil es sonst niemand tut (und Geschäftsmann Kern schön blöd wäre, würde er den Ex-Kanzlerbonus nicht ausspielen). Der deutsche Wirtschaftsminister der Grünen, Robert Habeck, sagt, wo es langgeht und steckt den Weg auf Facebookvideos ab, selbst wenn er für Mini-Etappen zehn Minuten braucht. Damit signalisiert er den Bürgern: Ich traue euch zu, komplexe Sachverhalte zu verstehen. Zu Recht. In der Pandemie wurden Menschen ohne Medizinstudium zu Inzidenz-Analysten und Aerosol-Experten. Dann kann man ihnen auch die Stagflation zumuten, also eine stagnierende Wirtschaft bei hoher Inflation.
Zugegeben, die sogenannte Merit-Order-Modell zur Preisfindung auf europäischen Strommärkten ist eine besonders harte Nuss. Wer es nicht versteht, kann aber nicht nachvollziehen, warum der Gaspreis die Strompreise auch im Land der Donaukraftwerke derart antreibt. Wir beschreiben das System und Exzesse am Strommarkt anschaulich. Kleiner Tipp: Passen Sie ihre Teilraten auf der Stromrechnung an die neuen Tarife an. Denn das dicke Ende auf der Stromrechnung steht vielen noch bevor.
Was kostet ein Liter Milch? Mit dieser Frage testen Journalisten die Street Credibility von Politikern. Wir sollten beim nächsten Interview den Strompreis je kWh sowie Merit-Order in den Fragenkatalog aufnehmen. Auch so erkennt man spätere Kanzler.
Einen komplexen Tag wünscht
Clemens Neuhold