Morgenpost

Osteuropa: Der neue Maidan

In Osteuropa wanken vielerorts die politischen Systeme und Wahlausgängen werden infrage gestellt. Das hat mit Russlands Krieg in der Ukraine zu tun – und ist brandgefährlich für freie Demokratien.

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Sie steht im eiskalten Strahl der Wasserwerfer und zeigt der Polizei, dem ganzen Staatsapparat und irgendwie auch dem Kreml den Mittelfinger. Ganz nach dem Motto: Wenn das Leben dir Wasserwerfer schickt, dann mach ein Wellnessbad daraus. Die Aufnahmen des oppositionsnahen georgischen Senders Formula TV vom Mädchen, das sich gegen die Wasserwerfer der Polizei stellt und demonstrativ in den Wasserstrahlen duscht, gingen tagelang durch die sozialen Medien und wurden zum Symbol des georgischen Protests. Seit Wochen gehen in der Hauptstadt Tbilisi tausende Menschen jeden Tag auf die Straße, um gegen den Ausgang der Parlamentswahlen am 26. Oktober zu demonstrieren.

Die Russland-freundliche Partei „Georgischer Traum“ hat die Wahlen gewonnen. Die Demonstrierenden werfen der Regierungspartei aber Wahlmanipulation vor. Sie glauben schlicht dem amtlichen Wahlergebnis nicht. Und tatsächlich stellten schon ein paar georgische und ausländische Meinungsforschungsinstitute den Wahlausgang infrage, weil sich ihre Wahldaten nicht unbedingt mit dem Wahlergebnis decken. Die georgische Staatsanwaltschaft hat vor über einem Monat ein Verfahren wegen Wahlbetrugs eingeleitet. Bisher scheinen die Wahlsieger von den Rufen der Straße aber recht unbeeindruckt zu sein. Obwohl deren Botschaft unmissverständlich ist: Georgien soll kein russischer Satelliten-Staat werden – nicht schon wieder – und auf EU-Kurs bleiben.

Auf der westlichen Seite des Schwarzen Meers, in Rumänien, wurde eine Wahl bereits annulliert. Scheinbar wie aus dem Nichts stieg der dortige Präsidentschaftskandidat Calin Georgescu zum Social-Media-Star auf – supercharismatisch, super rechtsradikal und super Kreml-freundlich. Erst vor ein paar Tagen hat das rumänische Verfassungsgericht die Präsidentschaftswahl nach Vorwürfen der Wahlmanipulation annulliert. Die Spuren seines Geldes reichen übrigens bis nach Wien, wie profil vor Kurzem berichtete

Konkret geht es dort um den Verdacht der „illegalen Finanzierung der Wahlkampagne eines Kandidaten für das Amt des rumänischen Staatspräsidenten“. Georgescu ging aus dem Stand mit Hilfe eines reinen Tik-Tok-Wahlkampfs mit 23 Prozent der Stimmen als Wahlsieger hervor. Jetzt werfen ihm die Behörden aber Wahlmanipulation auf Social Media vor und Ungereimtheiten rund um die Finanzierung seines Wahlkampfs. Der rumänische Geheimdienst sprach von einem „aggressiven russischen hybriden Angriff“ auf Rumänien.

Vertrauen erodiert

Dass in einem EU-Land, bisher dem ersten überhaupt, eine Präsidentschaftswahl wegen des Verdachts der Wahlmanipulation annulliert wird, ist demokratiepolitisch bedenklich. Es zerstört das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und es stellt jeden nächsten Wahlausgang unter Generalverdacht. Die Gerichte haben sich dennoch für die Anfechtung ausgesprochen. Und Rumänien ist zwar das erste EU-Land, das eine bundesweite Wahl wegen mutmaßlichen Wahlbetrugs annullieren muss, es könnte aber nicht das letzte bleiben.

Nur 380 Kilometer südwestlich von Bukarest gingen vor ein paar Wochen in der bulgarischen Hauptstadt Sofia ebenfalls zahlreiche Demonstranten auf die Straße, um eine Annullierung der Parlamentswahlen vom 27. Oktober zu fordern. Das Balkan-EU-Land versinkt schon länger in politischem Chaos und scheint tief gespalten zwischen pro-russischen und pro-europäischen Kräften. Es waren die zweiten Parlamentswahlen heuer und die siebten seit 2021. Zwar haben zwei pro-europäische Parteien – Gerb und „Wir setzen den Wandel fort“ – die Wahl gewonnen. Aber auch in bulgarischen Medien war kurz nach der Wahl von Wahlmanipulation und Stimmenkauf die Rede, ebenso von Einmischungen aus Russland.

Dort macht gerade eine andere populistische Tik-Tok-Partei für eine Wahlwiederholung mobil, allerdings mit weniger Kreml-Nähe als im nördlichen Nachbarland. Weil „die Größe“ (Velitschie, Anm.) mit 3,999 Prozent Stimmenanteil den Einzug ins Parlament um 21 Stimmen verpasst hat, gingen ihre Anhänger in Sofia auf die Straße. Tatsächlich berichtete aber das bulgarische öffentlich-rechtliche Fernsehen BNT, dass in einigen Wahllokalen Stimmen, die eigentlich für „Größe“ abgeben wurden, von den Wahlbeisitzern anderen Parteien zugerechnet wurden.

Wahlbetrug, Wählertäuschung oder Stimmenkauf sind am Balkan und in Osteuropa keine neuen Vorwürfe. Im Lichte des Ukraine-Kriegs und Russlands hybrider Angriffe auf die europäischen Demokratien bekommt das Thema aber gerade neuen Auftrieb. Und es hat in jedem Fall das Potenzial, das Vertrauen in freie, unabhängige Wahlen und in die staatlichen Institutionen zu zerrütten. Das ist der fruchtbarste Boden für totalitäre Umbrüche.

Andererseits: Dort, wo Russlands Einfluss auch historisch bedingt am größten ist und eigentlich nie ganz weg war, dort wo der Kreml immer offensichtlicher versucht, seinen Macheinfluss bis in die höchsten staatlichen Stellen auszubauen, dort sind auch die pro-europäischen Stimmen derzeit am lautesten. Und da helfen auch keine Wasserwerfer.

Marina Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".