Rede zur Lage der EU: Von der Leyen hat noch viel vor
Wer die „State of the Union“-Rede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern hörte, lauschte einer Frau, die nicht in der Vergangenheit schwelgte, sondern mit vielen Plänen in die Zukunft schaute. Die Rede befeuerte Spekulationen, dass von der Leyen mit ihrer Funktion noch nicht ganz abgeschlossen haben könnte. Die verbliebenen 300 Tage an der Spitze der Kommission werden jedenfalls nicht ausreichen, um die Mammut-Projekte zu verwirklichen, die sie in ihrer Rede umriss. War das vielleicht eine Wahlkampfrede?
Es war die letzte Rede zur Lage der Europäischen Union vor den kommenden Wahlen im Juni 2024. In Straßburg zog Ursula von der Leyen nicht nur Bilanz über die laufende Amtszeit, sondern stellte selbstbewusst ihre Visionen zur Zukunft Europas in Aussicht: Etwa eine Erweiterung der EU auf über 30 Mitgliedsstaaten und das Versprechen, die Ukraine so lange zu unterstützen, wie es nötig sei.
Die Amtszeit von der Leyens seit 2019 war von vielen Krisen geprägt – dennoch versuchte sie ein positives Bild zu zeichnen, mal auf Französisch, dann auf Deutsch und schließlich auf Englisch. Fortschritte gebe es bei der Gleichberechtigung von Frauen und in der Energieversorgung. Die letzten 10 Prozent drehen sich in den verbleibenden 300 Tagen der Legislaturperiode etwa um den grünen Deal, digitalen Fortschritt und stärkere globale Partnerschaften.
Die Rede machte deutlich, wie in Brüssel die Angst vor China wächst – möglicherweise noch mehr als vor Russland. Drei Highlights aus der Rede:
Auf grünem Kurs
Von der Leyen sprach den heißesten Sommer an, der in Europa je verzeichnet wurde. Wetterextreme wie die Waldbrände in Griechenland und Spanien, aber auch die Überschwemmungen von Slowenien bis Bulgarien seien „die Realität eines Planeten, der kocht“, so die Kommissionspräsidentin. Ihre Antwort darauf: Der Europäische Green Deal. Von Einigkeit kann in Sachen Naturschutz aber noch keine Rede sein, so wünschen sich etwa die österreichischen Forstwirte weniger Verbote.
Federführend bei dem Vorhaben war bis vor seinem Rücktritt Frans Timmermans, erster Vizepräsident der Kommission und Kommissar für Klimaschutz. Er koordinierte die ambitionierte Agenda, die Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent machen soll und trat „unermüdlich“ (Zitat: von der Leyen) für den Green Deal ein. Im August wurde er dann doch müde – und trat zurück, um in den Niederlanden bei den nationalen Wahlen zu kandidieren. Vorübergehend übernimmt der Slowake Maroš Šefčovič die Aufgaben Timmermans. Die Klima-Agenda habe man in eine wirtschaftliche Agenda weiterentwickelt, so von der Leyen gestern.
Fokus auf Wirtschaft
In Sachen Klimaschutz will von der Leyen auf die Industrie zugehen, um fit für eine klimaneutrale Zukunft zu werden. Sie wird ein „Paket für die Windkraft in Europa“ vorlegen. Damit will die Kommissionspräsidentin wohl die Gegner aus der eigenen konservativen EVP-Fraktion besänftigen. Diese hatte zuletzt beim Klimaschutz gebremst und dafür plädiert, die Interessen der Wirtschaft stärker zu berücksichtigen.
Ehrgeiz zeigt die deutsche Christdemokratin nicht nur, wenn es um den Naturschutz geht, sondern auch in Punkto Wettbewerb. Sie sprach wörtlich von „unfairen Handelspraktiken“ Chinas. Man habe nicht vergessen, dass sich diese auf die europäische Solarindustrie ausgewirkt habe. Die chinesischen Konkurrenten werden derzeit noch stark subventioniert – etwa am kriselnden Markt der Elektrofahrzeuge. Dieser sei mit „billigen chinesischen Elektroautos überschwemmt“, damit werde der Preis der Autos „künstlich gedrückt“.
Dieser Marktverzerrung will von der Leyen entgegenwirken und kündigt eine Antisubventionsuntersuchung zu E-Autos aus China ein. Dabei erwägt die Kommission Anti-Dumping-Zölle auf chinesische Elektroautos, ähnlich wie in der Solarbranche: Als Reaktion auf chinesische Billig-Importe, die den Markt verzerrten, leitete man Zölle auf chinesische Solaranlagen ein. Das löste beinahe einen Handelskrieg aus. Doch ganz verscherzen will man es sich mit einer der größten Volkswirtschaften der Welt auch wieder nicht – immerhin pflegt China gute Beziehungen zu Russland.
Beitrittsperspektive für die Ukraine
Als die Kommissionspräsidentin über den Krieg in der Ukraine sprach, wurde sie emotional. Sie hoffte auf einen baldigen Wiederaufbau einer „blühenden und modernen Ukraine“. Zuletzt ging man in Brüsseler Kreisen jedoch von einem länger andauernden Krieg aus. Von der Leyen versprach gestern 50 Millionen Euro an Hilfen – und erneuerte ihr Versprechen einer Beitrittsperspektive: „Die Zukunft der Ukraine liegt in unserer Union.“ Man werde dem Land „bei jedem Schritt“ beistehen. Weiterhin würden Geflüchtete aus der Ukraine Zugang zu Wohnraum, Gesundheitsdiensten und Arbeitsmarkt erhalten. Um Krankenhäuser oder Schulen weiter in Betrieb zu halten, hat die Kommission allein in diesem Jahr 12 Millionen Euro für die Zahlung von Löhnen und Pensionen bereitgestellt.
Bald über 30 EU-Staaten?
Ursula von der Leyen hat die Vision einer deutlich größeren Europäischen Union vor Augen, erweitert um Länder wie Moldau und Serbien. Sie sprach von einer „Welt, in der Größe und Gewicht zählen“ würden, weshalb es im Interesse Europas liege, die Union zu „vollenden“. Europa, so von der Leyen, funktioniere „auch mit mehr als 30 Staaten. Aber: Der Beitritt beruhe auf Leistung – diesen Grundsatz werde die Kommission stets verteidigen.
In Punkto Erweiterungen fiel ein weiterer Appel, und gleichzeitig eine Spitze gegen Österreich, freilich ohne die Republik explizit zu nennen: Rumänien und Bulgarien sollen „ohne weiteren Verzug“ in den Schengenraum beitreten dürfen. Österreich hatte sich quergelegt.
Ob sie sich um eine zweite fünfjährige Amtszeit bewirbt, ließ von der Leyen am Mittwoch vor den Abgeordneten in Straßburg offen. Sie wirkt jedenfalls motiviert, ihre vielen Pläne selbst umzusetzen. Das war jedenfalls ihre letzte Rede zur Lage der EU in der aktuellen Legislaturperiode. Und wo die Union in einem Jahr steht – das entscheiden Sie bei den Wahlen Juni 2024 mit.