Drei Männer und eine Frau stehen nebeneinander: Gewessler, Nehammer, Kogler, Brunner.
Morgenpost

Gewessler macht auf Hart. Warum Nehammer nicht auf Kurz macht.

Kanzler und Vizekanzler werden die Koalition nicht an deregulierten Flüssen und wieder vernässten Mooren scheitern lassen.

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Eine Umweltpolitikerin, die gegen Renaturierung stimmt, wäre rücktrittsreif. Die neue Verordnung der EU sieht vor, dass Moore, Feuchtgebiete, Flüsse, Wiesen und Wälder wieder in ihren natürlichen Zustand versetzt werden, um die Artenvielfalt zu fördern: Blumenwiese statt Betonwüste; ein Bächlein helle statt Kanalbett; Vöglein-Gezwitscher und Schmetterlinge statt Lärm und Abgase. Man könnte die Renaturierung – aus christlicher Warte – als kleine Wiedergutmachung gegenüber der Schöpfung sehen. Leonore Gewessler hätte eine grüne Todsünde begangen, wenn sie der Verordnung im Rat der EU-Umweltminister nicht zugestimmt hätte.

Eine Bundesministerin, die gegen geltendes Recht verstößt, wäre rücktrittsreif. Bei ihrer Ernennung im Jänner 2020 gelobte Leonore Gewessler, „die Verfassung und alle Gesetze der Republik getreulich zu beobachten“. Nach Meinung der ÖVP – basierend auf der Rechtsansicht des Verfassungsdienstes im Kanzleramt  – hat sie dieses Gelöbnis durch ihre Zustimmung im EU-Rat gebrochen, da sie einen Beschluss der Länder ignorierte und sich nicht mit dem Landwirtschaftsministerium ins Einvernehmen setzte. ÖVP-Generalsekretär Christian Stocker kündigte eine Strafanzeige wegen Amtsmissbrauch an. Gewessler selbst wähnt sich auf Basis privater Gutachten im Recht.

Moralisch untadelige Personen

Für Gewessler steht – zeitversetzt – viel auf dem Spiel. Irgendwann in den kommenden Jahren wird ein Höchstgericht ein Urteil fällen. Wenn sie verliert, ist ihre politische Karriere – falls sie dann noch  ein Amt oder Mandat innehat – zu Ende. Die Grünen dulden, wie man seit dem von ihnen erzwungenen Rücktritt von Sebastian Kurz weiß, nur „moralisch untadelige Personen“ (Klubobfrau Sigrid Maurer) in Spitzenfunktionen. Eine Politikerin, die als Ministerin einmal der Meinung war, das Recht habe ihrer Politik zu folgen, wäre untragbar.

Falls Gewessler gewinnt, wird sie endgültig in die grüne Hall-of-Fame aufgenommen. In ihrer Partei gilt sie seit gestern ohnehin als Heldin, bei der ÖVP dagegen als Hexe aus dem Moor. In einem Statement in Brüssel warf ihr Kanzler Karl Nehammer „Rechtsbruch und krasses Fehlverhalten“ vor. Gewessler und die Grünen hätten „ihr wahres Gesicht gezeigt“ und „Ideologie über Verfassung und Recht gestellt“. 

Nehammers Chaostheorie

Allerdings verzichtete der Kanzler auf eine Eskalation der Situation und schlug dem Bundespräsidenten nicht vor, Gewessler aus ihrem Ministeramt zu entlassen, so wie es Sebastian Kurz im Mai 2019 mit Herbert Kickl getan hat. Nehammers Begründung: Er wolle dem Land das dann drohende „Chaos“ ersparen. Der Kanzler belässt also eine Person, der er Amtsmissbrauch vorwirft, im Amt.

Alles andere wäre aus parteipolitischer Sicht auch unklug gewesen. Bei einer Entlassung hätten die verbliebenen grünen Regierungsmitglieder ihre Ämter zurückgelegt. Karl Nehammer hätte neue Minister engagiert, seine Mehrheit im Nationalrat aber verloren. Die anstehenden schwarzen Gesetzesvorhaben wären versandet, und auch seinen Wunschkandidaten als EU-Kommissar, Finanzminister Magnus Brunner, könnte Nehammer nicht mehr durchsetzen. Dazu hätte ein Misstrauensantrag im Nationalrat gedroht. Am Ende wäre er unter Umständen nicht als Bundeskanzler, sondern als Abgeordneter in den Wahlkampf gegangen.

Spielen sie es geschickt, können Nehammer und Werner Kogler, ÖVP und Grüne, in der jetzigen Situation reüssieren. Die Grünen haben am Ende noch einmal klargemacht, dass ihre Regierungsbeteiligung für den Umwelt- und Klimaschutz notwendig und erfolgreich war. Die ÖVP hat eine neue Buhfrau für den Wahlkampf gefunden und spielt abermals die Umweltschutz-Bremse, eine Funktion, von der sie sich Erfolg bei ihren Wählern verspricht. Und wie schon in seinem Statement in Brüssel wird sich Nehammer auch in den kommenden Wochen als Schutzpatron der Österreicher vor Chaos, den Grünen und wieder vernässten Mooren präsentieren.

Bleibt Nehammer nach der Wahl am 29. September Bundeskanzler, ist eine neuerliche grüne Regierungsbeteiligung, etwa in einer Dreierkoalition mit der SPÖ, wohl undenkbar. Das ist nach dem gestrigen Tag so klar wie ein renaturiertes Bächlein.

 

 

 

 

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.