Russlands freie Radikale
Fühlen Sie sich heute etwas weniger verwirrt ob des Beinahe-Putsches in Russland am Wochenende? Eigentlich nicht? Auch nach drei Mal schlafen wird man aus Yevgeny Prigozhins abgeblasenem Feldzug, den er mit seiner Wagner-Truppe gegen die Militärführung in Moskau startete, nicht wirklich schlau. Warum zieht man mit einem schwer bewaffneten Konvoi gegen das russische Verteidigungsministerium, um dann 200 Kilometer vor der Hauptstadt wieder umzukehren? Und warum kommt Prigozhin mit dieser Aktion des „Hochverrats“, wie sie Putin selbst nannte, straffrei davon und darf in Minsk unbescholten weiterleben? Immerhin sind im letzten Jahr zahlreiche Manager und Kritiker für deutlich weniger an Widerstand aus dem Fenster oder die Treppe hinuntergeflogen.
Russland ist politisch eine Black Box und die Vorkommnisse nähren derzeit vor allem Verschwörungstheorien. War es die CIA, wie die staatlichen russischen Medien seit Sonntag poltern? Hat Putin gar selbst den Putsch orchestriert oder zumindest stattfinden lassen, um einer weit größeren Bedrohung aus den eigenen Reihen zuvorzukommen? Soll es ein Ablenkungsmanöver für die angelaufene ukrainische Gegenoffensive gewesen sein, damit die Privatarmee Wagner die Ukraine jetzt von Weißrussland aus angreifen kann? Oder versucht man damit geschickt von einer möglichen nuklearen Eskalation im Ukraine-Krieg abzulenken, wie zuletzt US-Diplomaten und -Dienste warnten? All das wissen wir nicht. Ein paar Antworten rund um „Putins Koch“ Yevgeny Prigozhins und seine Söldner-Truppe konnte unser Kollege und Außenpolitik-Chef Robert Treichler aber dennoch hier zusammentragen.
Jubel für die Kriegstreiber
Eine besorgniserregende Wahrheit hat dieser Beinahe-Putsch aber definitiv zutage gebracht: Russland ist spätestens seit Samstag ein völlig unberechenbares, unkontrollierbares freies Radikal. Im größten Land der Welt ist mittlerweile alles jederzeit möglich, mit und ohne Putins Gnaden. Auch wenn man das in den westlichen EU-Ländern lange Zeit nicht wahrhaben wollte, spätestens mit der Annexion der Krim war klar, wohin Putins Pläne in der Ukraine führen sollten. Die Situation war brandgefährlich und mündete in den brutalen Überfall auf die Ukraine, aber sie war kalkulierbar. Und jetzt? Der Krieg in der Ukraine könnte noch jahrelang als mühseliger Abnützungskrieg weitergehen, der unzähligen Menschen das Leben kostet. Es könnte aber auch schon bald den nächsten Putschversuch geben, der gar in einem Bürgerkrieg endet. Im größten Land der Welt, das über 5889 atomare Sprengköpfe und 34 Atomreaktoren verfügt.
Und noch eine, aus europäischer Sicht sehr bittere Wahrheit hat dieses Wochenende in Russland offenbart: Prigozhin und seine Söldner konnten nicht nur ungehindert und bewaffnet mit ihrem Konvoi durch Russland ziehen. Sie wurden mit „Wagner, Wagner“-Rufen und Selfie-Sticks von der lokalen Bevölkerung empfangen. Zum Beispiel in Rostow am Don, wo die Söldner gleich für ein paar Stunden die dortige Militärbasis der russischen Armee ohne viel Gegenwind besetzten. Das waren keine pro-westlichen, pro-demokratischen Oppositionellen, denen die jungen Russinnen und Russen zujubelten. Das sind rechtskräftig verurteilte Schwerverbrecher und Kriegstreiber. Wagners Söldner morden, foltern und vergewaltigen nicht nur in der Ukraine, sondern auch in Syrien, Mali, in der Zentralafrikanischen Republik (ZAR).
Die demokratische Opposition ist in Russland schon verstummt. Sie wurde auf Jahre weggesperrt, vergiftet oder beides, wie zuletzt Alexei Nawalny. Der Oppositionsführer sitzt nach einem Giftanschlag derzeit im russischen Straflager. Auch wenn Putins Macht bröckelt, was derzeit wohl noch nicht der Fall ist, es deutet nichts darauf hin, dass es nach ihm besser wird.
Das hat auch Konsequenzen für die österreichisch-russischen Beziehungen, die zunehmend zur Belastung werden und immer schwieriger zu argumentieren sind. „Wir lassen nicht zu, dass eine innerrussische Angelegenheit auf österreichischem Boden ausgetragen wird”, postete Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) am Sonntag auf seinem Instagram-Kanal. Welche Angelegenheiten er genau meint, ist auch auf Nachfrage bei zahlreichen Russland- und Militärexperten unklar, wie Kollegin Anna Wintersteller hier nachzeichnet. Vielleicht hätte er aber auch besser schreiben sollen: „Russland ist nach diesem Wochenende zu einem noch unkalkulierbareren Risiko auch für Österreich geworden und wir müssen uns schleunigst überlegen, wie wir die noch immer hohen Abhängigkeiten und Verflechtungen im Energie- und Wirtschaftsbereich reduzieren können, damit uns ein Systemzusammenbruch dort nicht um die Ohren fliegt.“