Salman Rushdie und die „Beleidigungen“
Guten Morgen!
Es ist ein Glück, dass ich hier keinen Nachruf zu schreiben habe. Der in Britisch-Indien geborene Schriftsteller Salman Rushdie hat das Messerattentat am 12. August in Chautauqua (Bundesstaat New York) überlebt. Was immer bei der polizeilichen Untersuchung des Anschlags herauskommen mag, die Tat wurzelt ohne Zweifel in der Fatwa des mittlerweile verstorbenen iranischen Staatschefs Ayatollah Khomeini aus dem Jahr 1989, in der Khomeini zur Ermordung Rushdies aufrief, weil dessen Roman „Die Satanischen Verse“ Blasphemie gegen den Islam darstelle.
Rushdie ist durch diese Fatwa dazu verdammt, als Fleisch gewordenes Beispiel für den Kampf um die Freiheit der Kunst zu dienen. Aber glauben Sie bloß nicht, seine Position sei in der freien Welt unumstritten! Natürlich würde niemand einen Mordaufruf gutheißen, doch der Vorwurf, den Ayatollah Khomenei seiner Fatwa zugrunde gelegt hatte – Rushdie habe den Islam beleidigt – beruht auf einer Denkfigur, die durchaus en vogue ist: Beleidigungen, ob sie nun intendiert seien oder nicht, müssen vermieden werden, und (Selbst-)Zensur sei dafür ein taugliches Instrument.
Rushdie reagierte auf diese Tendenz in einer Rede beim PEN-World-Voices Festival 2021:
„Noch ernster ist die wachsende Akzeptanz der Bring-das-Boot-nicht-zum-Schaukeln-Reaktion auf Künstler, die es zum Schaukeln bringen, die wachsende Zustimmung, Zensur könne gerechtfertigt sein, wenn gewisse Interessen-, Gender- oder Glaubensgruppen sich durch ein Werk beleidigt fühlen. Aber große Kunst, oder sagen wir bescheidener, originelle Kunst entsteht nie in der sicheren Mitte, sondern immer an den Rändern. Originalität ist gefährlich.“
Nicht nur Rushdie fürchtet, dass Verlage immer weniger bereit sind, Bücher zu veröffentlichen, die von einer Gruppe als beleidigend stigmatisiert werden. Würde „Die Satanischen Verse“ heute noch erscheinen können? Oder wäre die behauptete „Beleidigung“ des Islam Grund genug, das Manuskript unveröffentlicht zu lassen?
Ayad Akhtar, der aktuelle Präsident des amerikanischen PEN-Clubs, eines international vernetzten Verbands von Autorinnen und Autoren, schrieb vergangene Woche, man müsse die Freiheit der Kunst in jedem Fall verteidigen, auch in Fällen, in denen keine Einigkeit über herrsche, denn: „Das bedeutet es, die Freiheit zu einem Prinzip zu erheben.“
Rushdie nennt in seiner Rede, die in dem Band „Sprachen der Wahrheit: Texte 2003-2020“ abgedruckt ist, auch Schriftsteller, die wegen ihrer Arbeiten verbannt oder getötet wurden: Ovid, Ossip Mandelstam, Garcia Lorca. Ihre Werke hätten die diktatorischen Systeme überdauert, und so könne man sagen, Kunst sei stärker als Zensur, schreibt Rushdie. Und fügt hinzu: „Doch Künstler sind verwundbar.“
Der Staat und die Gesellschaft müssen die Künstler schützen, ebenso wie das Prinzip der Kunstfreiheit. Was Ihnen und mir dabei helfen kann, all das besser zu verstehen? Rushdie lesen! Zum Einstieg vielleicht dieses Doppel-Interview aus 2007 mit dem Autor und dem damaligen Bundeskanzler Alfred Gusenbauer.
Einen schönen Mittwoch wünscht
Robert Treichler