Christine Lagarde, Chefin der Europäischen Zentralbank (EZB)
Morgenpost

Schlucken, Zähne zusammenbeißen und wirken lassen

Zuletzt arbeiteten EZB und die EU-Staaten bei der Bekämpfung der Inflation gegeneinander. Das muss sich jetzt ändern, mit unangenehmen Folgen für alle.

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Haben Sie gut geschlafen? Wenn Sie gerade einen flexibel verzinsten Kredit bedienen müssen, dann war die Nacht vielleicht nicht ganz so erholsam. Am Donnerstag hat die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins wie erwartet um 25 Basispunkte auf 3,75 Prozent angehoben. Für Nicht-Ökonomen: Der Leitzins ist jener Zinssatz, um den sich Geschäftsbanken Geld bei den Notenbanken borgen beziehungsweise parken können. Wenn er besonders niedrig ist, so wie im vergangenen Jahrzehnt, können Banken auch besonders günstige Kredite an Haushalte und Unternehmen vergeben. Steigt er, steigen die Kreditzinsen, aber auch die Zinsen auf Spareinlagen.

Der Leitzins ist außerdem die größte Keule der Geldpolitik gegen die Inflation. Und diese ist mit sieben Prozent im Euro-Raum und satten 9,8 Prozent in Österreich nach wie vor sehr hoch und sehr weit weg von den zwei Prozent, die die EZB als so etwas wie die ideale Inflation festgemacht hat. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig, um das Wachstum abzuwürgen. Wenn die Zinsen steigen, sinken die Investitionen, die sich wegen der teuren Kredite dann nicht mehr lohnen, und die Nachfrage, womit auch die Inflation sinkt. Zumindest in der Theorie.

In der Praxis ist im vergangenen Jahr in den EU-Ländern aber etwas anderes passiert. Seit Juli 2022 hat die EZB den Leitzins sieben Mal angehoben, um die Nachfrage und damit die Inflation zu bremsen.  Die meisten EU-Staaten wie Österreich haben aber sehr viele Milliarden Euro in die Hand genommen, um den inflationsbedingten Kaufkraft- und Einkommensverlust abzufedern. Sehr überspitzt formuliert, sind sie mit Gießkannen und Kübeln gegen die Inflationskeule der EZB aufgefahren. In Österreich kosteten die Energie- und Wohnkostenzuschüsse, die Strompreisbremse und Klimaboni und andere Anti-Teuerungshilfen bisher laut Finanzministerium 6,6 Milliarden Euro. Rechnet man noch Maßnahmen wie die Abschaffung der kalten Progression oder die Valorisierung von Sozialleistungen hinzu, sind laut dem Brüsseler Think Tank Bruegel über fünf Prozent der Wirtschaftsleistung in Anti-Teuerungshilfen geflossen, also fünf von einhundert erwirtschafteten Euro für die Krise. Das hat sicherlich viele Menschen vor dem Abrutschen in bittere Armut oder in die Insolvenz bewahrt, viele andere aber auch nicht. Und vor allem hat die großzügige Finanzspritze nicht dazu geführt, dass Besserverdiener ihren Konsum zügeln und damit die Preise wieder sinken.

Unser Wohlstand der vergangenen Jahre hat auf billige Energie und billiges Geld gefußt. Beides ist vorerst vorbei. „Man muss die EZB jetzt einmal wirken lassen“, sagt die Ökonomin Heike Lehner. Zu dieser Erkenntnis kamen auch Wirtschaftsminister Martin Kocher und Finanzminister Magnus Brunner (beide ÖVP) bei einem Journalistengespräch am Donnerstag. Statt Einmalzahlungen will man künftig vorsichtiger agieren und zu anderen, treffsicheren Instrumenten greifen. Wie genau? Mal schauen. Das „wirken lassen“ bedeutet aber, so bitter das auch ist: Kaufkraftverlust, weniger Geld für Urlaube, Restaurantbesuche, Gewand, Freizeit… Wohlstandsverlust, Rezession.

Bei den Kreditnehmern wirkt die Zinskeule indes bereits. Laut EZB ist die Nachfrage nach Unternehmenskrediten im Euro-Raum um 35 Prozent eingebrochen. Nicht nur, dass Betriebe wegen der steigenden Zinsen weniger Kredite nachfragen, sie bekommen diese auch schwieriger, weil die EU-Banken die Vergabekriterien straffen. Aus Angst, dass die Kredite irgendwann uneinbringlich werden könnten. In Österreich ist die Vergabe von Immobilienkredite in den vergangenen zwölf Monaten um mehr als die Hälfte eingebrochen. Und die Sorgen, ob man sich den laufenden Kredit noch leisten kann, sind massiv gestiegen. Bei Hausbauern wie bei Unternehmen.

Eine Umfrage des Finanzombudsteams unter 834 KMUs aus den Bereichen Gastronomie, Hotellerie, Handel und Handwerk zeigt: Jeder vierte befragte Betrieb kann seinen Kredit nicht mehr aus den laufenden Einnahmen bedienen. Wenn die Zinsen um einen weiteren Prozentpunkt steigen, sehen sich zwei Drittel der Betriebe in ihrer Existenz bedroht. „Wir brauchen uns nichts vorzumachen, wir steuern auf eine Rezession zu“, formuliert es Gerald Zmuegg, Geschäftsführer des Finanzombudsteams, drastisch. Als Indiz dafür nennt er die aktuell inverse Zinsstruktur an den Finanzmärkten. Stark verkürzt und vereinfacht erklärt: Wertpapiere mit fixen Zinssätzen und längerer Laufzeit werden derzeit günstiger bewertet als kurzfristig flexibel verzinste. Am Finanzmarkt gilt dieser Umstand als Vorbote einer Rezession. Das bedeutet, dass man die wirtschaftliche Lage in zehn Jahren besser bewertet als in drei Monaten.

Jenen von Ihnen, die trotz dieser Vorboten noch gut und ruhig schlafen, weil Geld keine Rolle spielt, empfehlen wir einen Besuch im gefühlt teuerste Nobel-Restaurant Wiens. Unser Gastro-Kolumnist Markus Huber war dort mit dem PR- und ÖVP-Berater Wolfgang Rosam Mittagessen, geschäftlich. Es ging dabei nicht unbedingt ums Essen und es war teuer. Aber lesen Sie selbst!

Allen anderen wünsche ich einen schönen Tag und eine günstige Mahlzeit! Einfach schlucken, durchatmen und wirken lassen. Die nächste Krise kommt bestimmt.

Marina Delcheva

Marina Delcheva

leitet das Wirtschafts-Ressort. Davor war sie bei der "Wiener Zeitung".