Schon 100.000 Syrer in Österreich: Eine Community mit Image-Schaden
100.000 Syrer: Diese Zahl mag überraschen. Lebten vor 20 Jahren erst 760 und vor zehn Jahren 4000 syrische Staatsangehörige in Österreich, ging die Zahl durch zwei Fluchtwellen aus Syrien ab 2015 und dann wieder 2020 steil nach oben. Offiziell weist Statistik Austria 95.000 syrische Staatsangehörige aus. Doch diese Zahl stammt vom Jahresbeginn. Eine Sonderauswertung für profil ergab 98.000 per 1. April.
Angesichts des starken Familiennachzugs, der seit 2023 hunderte Kinder pro Monat nach Wien führt, wird die 100.000er Marke dieser Tage überschritten. Zum Vergleich: In Österreich leben rund 50.000 Afghanen, 80.000 Ukrainer, 120.000 Serben und Türken (ohne österreichische Staatsbürgerschaft).
Syrer in der medialen Negativspirale
Schaut man auf die Schlagzeilen der vergangenen Wochen und Monate, müsste die Integrationsbilanz negativ ausfallen. Im Boulevard sind Syrer als Straftäter überrepräsentiert. Syrische Jugendbanden liefern sich blutige Straßenschlachten mit Tschetschenen und Türken. Ein Bericht über eine Großfamilie mit 4600 Euro Mindestsicherung pro Monat provoziert Grundsatzdebatten über das Sozialsystem.
Die unsichtbaren Syrer
Wer dabei unter die Räder kommt, sind Syrer, die längst angekommen sind in Österreich. Die täglich arbeiten. Die auf dem Weg zur österreichischen Staatsbürgerschaft sind oder sie bereits besitzen. Es sind die Syrer, die mit der ersten Welle ab 2015 kamen. Wie Bilal Albeirouti (42), der erste syrische Bim-Fahrer Wiens. Als eine Art Job-Influencer bewog er viele Landsleute dazu, sich ebenfalls bei den Wiener Linien zu bewerben. Heute ist Albeirouti auch Fahrlehrer. Sein erster Schüler war ein Syrer. Ich habe ihn für profil wieder besucht, dieses Mal umringt von Landsleuten in Straßenbahn-Uniform.
Oder die vielen Standbetreiber am Wiener Brunnenmarkt, der einmal österreichisch, dann jugoslawisch und türkisch war und nun im Zentrum mehrheitlich arabisch ist. Diese Syrer stehen täglich im Morgengrauen auf und sorgen mit unternehmerischem Geschick dafür, dass der Markt weiterhin der größte durchgehende Straßenmarkt Europas bleibt.
Friedlicher Brunnenmarkt, wilder Yppenplatz
Der Brunnenmarkt in Ottakring geht in den oberen Yppenplatz über (nicht zu verwechseln mit der unteren "Yppe" und ihren Lokalen). Er ist Sinnbild für zwei Klassen Syrer. Der Brunnenmarkt mit seinen Standbetreibern repräsentiert die leise Mehrheit; der Yppenplatz mit seinen syrischen Drogendealern die laute Minderheit. Sie bringen den Platz mit Schießereien und Messerstechereien, zuletzt diesen Sonntag, in Verruf und erschüttern das Sicherheitsgefühl an einem Ort gelebter Vielfalt samt Kinderspielplatz.
Die syrischen Standler kamen ab 2015 vorwiegend aus Städten wie Damaskus, Aleppo oder Idlib, die noch nicht komplett zerstört waren. Sie hatten ein bürgerliches Leben vor der Flucht. Angekommen in Österreich fielen sie durch Kriminalität nicht sonderlich auf. Ihre Kriminalitätsrate lag im Unterschied zur zweiten großen Fluchtgruppe, den Afghanen, jahrelang nicht wesentlich über jenen der Österreicher.
Die syrischen "Bahnhofskinder"
Jene Syrer, die mit der zweiten Welle ab 2020 kamen, stammen eher aus ländlichen Gebieten. Sie kannten jahrelang nur Krieg. Oder sie lebten in Flüchtlingslagern, in denen teils mafiöse Strukturen herrschen, an die sie sich anpassten. Die Analphabetenrate zwischen erster und zweiter Welle ist markant höher. Und auch die Kriminalitätsneigung.
Syrer der ersten Welle nennen jene, die in den vergangenen Monaten in Österreich Krawall schlugen, "Bahnhofskinder" und wollen nun verstärkt auf sie einwirken. Doch auch die zweite Welle brachte viele Syrer nach Österreich, die einfach wieder leben wollen, samt ihrer Familien.
Wie geht es weiter mit der Integration?
Die Arbeitslosigkeit der Syrer bleibt eine Herausforderung. Sie beträgt in Wien, dem Lebensmittelpunkt der Community, 54 Prozent. Und das bald zehn Jahre nach Beginn der Flüchtlingswelle. Frauen arbeiten vergleichsweise selten.
Und auch der muslimische Antisemitismus, den nicht wenige Syrer in Zeiten des Gaza-Krieges offen ausleben, weckt Zweifel am künftigen Zusammenleben - in einem Land, das gegenüber Juden historisch eine besondere Verantwortung hat. Doch damit sind Syrer mit Blick auf andere muslimische Communities nicht alleine.
Durch den starken Familiennachzug aus Syrien, der sich in einzelnen Wiener Wohnvierteln ballt, steht die Community am Scheideweg zwischen Integration und Parallelgesellschaft. Die Situation an sogenannten "Brennpunktschulen" mit bis zu 100 Prozent Muslimen ist in dieser Hinsicht schon jetzt prekär.
Neben der Stadt und dem Staat wird es auch die Aufgabe von integrierten Syrern wie Albeirouti und Kollegen sein, neue Landsleute auf Schiene zu bringen. Denn unter dem Image-Schaden leiden alle gemeinsam.