Wird Herbert Kickl doch nicht „Volkskanzler“?
Ich hatte gestern Abend einen schönen Newsletter für Sie vorbereitet – und mir dafür drei wirklich gute Wortwitze überlegt. Leider musste ich ihn kübeln, denn kurz nachdem die Sonne untergegangen war, brach die Aufregung aus: ÖVP-Chef Christian Stocker unterbrach seine Verhandlungen mit FPÖ-Chef Herbert Kickl um eiligst einen Parteivorstand für 19:00 Uhr einzuberufen. Landeshauptleute liefen aus Sitzungen. Die zweite und dritte Zwiebelschicht rund um den harten schwarzen Parteikern versuchte herauszufinden, was los sei, die Telefone glühten. Der Boulevard titelte „Blau-Schwarz an der Kippe“. Ist das so?
Könnte man so sagen. Aber was war passiert? Mit Dienstag hatten die Untergruppen eigentlich ihre Verhandlungen abgeschlossen. Das hieß nicht, dass man sich überall einig war. Die Themen wurden nach Ampelsystem eingefärbt: Grün bedeutete Einigung. Gelb, dass Details noch abzustimmen waren. Rot: Keine Einigung. Diese Themen wurden dann zur Chefsache.
Stocker und Kickl saßen also mit ihrem engsten Kreis (nur Buben!) Montag und den halben Dienstag zusammen, um jene Probleme zu lösen. Diese Stunden waren für beide Parteien ein Realitätsflash, der auch schmerzhafte Kompromissbereitschaft erforderte. Die FPÖ musste realisieren, dass sie eben nicht die Absolute hält und sich in manchen Fragen vom Juniorpartner erpressen lassen muss. Die ÖVP musste verstehen, dass sie nicht mehr stimmenstärkste Partei ist und darum gewisse Forderungen nicht erfüllt werden.
Und dann kam die Nagelprobe: Die Ressortaufteilung. Die FPÖ legte eine Liste auf den Tisch, die aus ihrer Sicht höchst großzügig war, denn man bedachte die ÖVP mit sieben Ressorts, während man sich selbst nur fünf nehmen wollte. Aber der Knackpunkt war, welche Ministerien das waren. Für die ÖVP hatte Kickl folgende vorgesehen: Verteidigung, Landwirtschaft, Wirtschaft, Soziales, Außenministerium, Infrastruktur und Justiz (man bot an, es unabhängig zu besetzen). Klingt nach Gerechtigkeit, immerhin hat die FPÖ die Wahl gewonnen (mit 2,5 Prozent Vorsprung, das darf man nicht vergessen). Für die ÖVP war das aber eine reine Provokation, denn sie würde laut dieser Aufteilung keines jener Ressorts bekommen, die ihr wirklich wichtig sind und wo die Volkspartei ihre roten Linien in der Zusammenarbeit mit der FPÖ zieht.
Tabuzonen
Erstens: Laut profil-Informationen beanspruchte die FPÖ das Innenministerium – für die ÖVP nach der Erfahrung mit Kickl als Innenminister in der letzten türkis-blauen Regierung ein absolutes No-Go. Immerhin hatten sich die Blauen – offenbar von russischen Spionen (Ex-Wirecard-Chef Jan Marsalek) aufgestachelt – dazu aufhetzen lassen, eine Hausdurchsuchung im Verfassungsschutz voranzutreiben. Kickl war damals kaum zwei Monate im Amt. Bis heute leidet Österreichs Ruf bei internationalen Partnern nach der Aktion.
Die ÖVP hatte von Anfang an gesagt, den Anspruch auf das Innenministerium bis aufs Letzte verteidigen zu wollen. Aber die FPÖ ist nicht dumm und hat sich etwas für die Außenwirkung einfallen lassen. Kickl bot der ÖVP am Dienstag einen unabhängigen Staatssekretär an, der sich um die Geheimdienste kümmern sollte – man erachtete es dennoch als inakzeptabel. Im Innenministerium liegen außerdem die Staatsbürgerschafts- und Asylagenden. Die FPÖ hatte in den Verhandlungen etwa die Legalisierung von Pushbacks gefordert, die rechtswidrig sind – auch hier hatte die ÖVP gesagt, keinesfalls mitmachen zu wollen.
Zweitens: Medien, Kunst und Kultur sollten ins Kanzleramt wandern. Der ORF war eines der Top-Wahlkampfthemen – die ÖVP hatte vorab versprochen, die sogenannte vierte Macht im Staat weiter stützen zu wollen und verteidigte ORF und Medien in den Verhandlungen. Die FPÖ will hier freilich ihre Wahlkampfversprechen einlösen. Auch die Kunst- und Kulturagenden sollten nicht unterschätzt werden. Hier liegen große Fördertöpfe, hier wird Gesellschaft beeinflusst und geformt.
Drittens: Die EU-Agenden. Bis Sebastian Kurz 2017 Kanzler wurde, waren die EU-Agenden im Außenministerium angesiedelt – er nahm sie mit ins Kanzleramt. Herbert Kickl soll dieses Ressort jetzt auch für sich beansprucht haben. Ebenfalls ein No-Go für die ÖVP, die sich als dezidiert pro-europäische Partei versteht. Man hatte sich zwar mit der FPÖ in der Unterverhandlungsgruppe klar auf ein Ja zur Europäischen Union verständigt – die Blauen hatten aber gleichzeitig etliche internationale Projekte infrage gestellt und positionieren sich auch sonst EU-feindlich. In den Verhandlungen forderte man etwa, dass künftig wieder nationales vor internationales Recht gestellt werden müsse – heißt etwa, dass man Urteile des EuGH nicht unbedingt akzeptieren will. Ein absoluter Tabubruch, der Österreich innerhalb der westlichen, europäischen Staatengemeinschaft ins Aus stellen würde.
Viertens: Das mächtige Finanzministerium wäre auch nicht in der Hand der ÖVP.
Aufgeregte Männer
Christian Stocker teilte Kickl also am Verhandlungstisch emotional mit, dass man dieser Liste so sicher nicht zustimmen würde. Kickl wurde ebenfalls krawutisch, sprang auf und sagte, dass er sich dann eben an den Bundespräsidenten wenden werde, um ihm mitzuteilen, dass man in einer schwierigen Phase der Verhandlung sei. Stocker rief den Parteivorstand an. Das knappe Statement aus der Parteizentrale: „Die Regierungsverhandlungen befinden sich in einer schwierigen Phase. Die ÖVP befindet sich nach wie vor in laufenden Verhandlungen. Für heute und morgen sind Gesprächstermine in den Untergruppen anberaumt. Unser Parteiobmann Dr. Christian Stocker hat stets betont, dass es drei Grundvoraussetzungen für diese Verhandlungen gibt. An diesen hat sich nichts geändert. Das wurde auch in den Gremien der ÖVP bestätigt“. Diese drei wären: EU, Russland, Rechtsstaat.
Neuwahlen? Hat es Kickl vielleicht sogar darauf angelegt? Und was heißt das? Es würde das Land weiter in die Instabilität stürzen – und am Ende nicht viel ändern.
Heute wird also weiterverhandelt – aber kann man bei so einer Ausgangslage noch eine Einigung finden? Wenn nicht, was dann? Neuwahlen? Hat es Kickl vielleicht sogar darauf angelegt? Und was heißt das? Es würde das Land weiter in die Instabilität stürzen – und am Ende wahrscheinlich nicht viel ändern. Die FPÖ würde vielleicht noch ein paar Prozentpunkte holen, weil die ÖVP arg geschwächt ist. Aber dann braucht sie immer noch einen Koalitionspartner. Wer soll das sein, außer der ÖVP? Die Grünen wohl eher nicht. Und eine SPÖ unter Andreas Babler auch nicht. Dass der das Feld räumt, ist nicht abzusehen – obwohl er am Scheitern der vorangegangenen Koalitionsverhandlungen einen durchaus großen Anteil hat (wie das übrigens auch die eigenen Genossen bewerten). Oder ist diese Kickl-Aktion am Ende doch nur ein Muskelspielen und er wird einlenken? So nahe am Kanzlerstuhl wie jetzt war er noch nie, wie viel ist er am Ende dafür bereit zu geben?
Ich werde mich hinter das Telefon klemmen und Ihnen morgen wieder berichten, was ich rausgefunden habe. Bis dahin darf ich Ihnen die neuen Folgen unseres Investigativ-Podcasts „Nicht zu fassen“ empfehlen. Wir starten heute eine zweite Staffel zu ihm: Herbert Kickl. Passt doch irgendwie.
Haben Sie einen schönen Tag. Wir lesen uns hoffentlich morgen.