Serbiens Proteste sind eine Hoffnung für alle Balkanländer
Es war die wohl größte Massendemonstration in der Geschichte Serbiens und der vorläufige Höhepunkt einer seit November 2024 anhaltenden Protestwelle. Hunderttausende haben am Wochenende die serbische Hauptstadt Belgrad lahmgelegt. Die Drohnenaufnahmen sind beeindruckend. Die serbische Regierung gab die Zahl mit 107.000 an. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren es aber deutlich mehr. Die Schätzungen von Nichtregierungsorganisationen reichen von 225.000 bis 325.000 Menschen.
Korruption tötet
Werden diese Proteste den allmächtigen Präsidenten Aleksandar Vučić zu Fall bringen? Noch ist das nicht absehbar, aber eine Sache ist schon jetzt klar: Der serbischen Zivilbevölkerung ist etwas gelungen, an dem viele auf dem Balkan scheitern. Sie haben aufgezeigt, dass Korruption im Bausektor nicht abstrakt ist, sondern im Gegenteil, sehr alltäglich. Sie haben klargemacht, dass sie töten kann und Unfälle verhindert werden könnten. So wie am Wochenende in Nordmazedonien. Dort fing in der 25.000-Einwohner-Stadt Kocani ein Nachtclub während eines Hip-Hop-Konzertes Feuer. Die Zahl der Todesopfer ist mittlerweile auf 59 gestiegen. 155 weitere wurden verletzt. Auslöser war höchstwahrscheinlich Pyrotechnik auf der Bühne. Die Funken setzten die Decke in Brand, die aus leicht entflammbaren Material bestand. Mittlerweile ist bekannt: Das Konzert fand in einem alten Gebäude statt, das früher als Teppichlager diente. Die Betriebsgenehmigung des Clubbetreibers war kurz davor, auszulaufen. Erst im September 2021 war es in Nordmazedonien in einem behelfsmäßigen Coronakrankenhaus zu einem Brand gekommen.
Korrupte staatliche Aufsichtsbehörden und das Nichtbeachten von Sicherheitsvorschriften gehen in Südosteuropa Hand in Hand.
Korrupte staatliche Aufsichtsbehörden und das Nichtbeachten von Sicherheitsvorschriften kommen in Südosteuropa immer wieder vor. Die Konsequenzen sind nicht selten verheerend. So auch in Albanien, wo 2019 nach einem Erdbeben zahlreiche Wohnhäuser in sich zusammenbrachen. Auch, weil bei Neubauten in den Nullerjahren massiv gepfuscht worden war. 51 Menschen starben damals.
In Serbien aber hat ein Vorfall aus dem November 2024 das Fass zum Überlaufen gebracht. Damals stürzte das Vordach eines renovierten Bahnhofs in der Stadt Novi Sad ein. 15 Menschen kamen ums Leben. Daraufhin begannen Studierende im ganzen Land ihre Fakultäten zu besetzen. Sie vermuten, dass es bei dem Bau des Bahnhofes zu Korruption gekommen und Geld in dunkle Kanäle abgeflossen sein könnte. Der Vorfall in Novi Sad wurde zur Zäsur. Seitdem reißt die Protestwelle nicht ab und hat weite Teile der Gesellschaft und ganz Serbien erfasst – bis zur Diaspora in Wien.
Die Menschen fordern, was auch die EU will
Das, was die Demonstrierenden fordern, ist alles andere als revolutionär. Für einen EU-Beitrittskandidaten wie Serbien ist es sogar eine Grundvoraussetzung, um überhaupt der Union beizutreten. Die Menschen, die in Serbien auf die Straße gehen, wollen einen funktionierenden Rechtsstaat und unabhängige Institutionen. Sie wollen in einem Land leben, in dem Richterinnen und Richter eigenständig entscheiden und die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Verantwortliche einleiten kann, ohne zurückgepfiffen zu werden. Das kollabierte Vordach in Novi Sad ist ein Paradebeispiel dafür, dass das Gegenteil der Fall ist. So hatte ein Ingenieur, der auf der Baustelle in Novi Sad tätig war, sich wiederholt an die Baubehörde gewandt und vor konkreten Mängeln gewarnt. Am Ende verlor er seinen Job und Serbiens Präsident Aleksandar Vučić beschimpfte ihn in aller Öffentlichkeit. Die Proteste in Serbien sind somit ein Spiegel für all das, was die EU von ihren Beitrittskandidaten fordert: Transparenz, Gewaltenteilung, eine freie Presse. Nichts davon gibt es in Serbien und das, obwohl das Balkanland seit 2014 über eine EU-Mitgliedschaft verhandelt. Der Prozess offenbart aber auch eine gewisse Ohnmacht Brüssels. Denn Serbien ist in diesem Jahrzehnt nicht wie erhofft demokratischer, sondern autoritärer geworden.
Wo sind die EU Flaggen?
Wer sich die Bilder aus Belgrad vom Wochenende ansieht, dem und der wird etwas auffallen. In der Menge sind keine EU-Flaggen zu sehen. Das hat eine lange Vorgeschichte. Die EU hofiert Aleksandar Vučić, obwohl er seit Jahren Oppositionelle einschüchtert und die Presse gleichschaltet. Dazu kommen Vorwürfe der Wahlmanipulation, über die wir hier im Detail berichtet haben. Die EU will Vučić mit ihrer Appeasement-Politik an sich binden. Und mit ihm ins Geschäft kommen. Im Juli 2024 unterzeichnete die EU ein Rohstoffabkommen mit Vučić, um europäischen Automobilherstellern, darunter auch Mercedes-Benz, Zugang zum größten Lithium-Vorkommen Europas zu verschaffen. Vučić hat davon innenpolitisch profitiert, indem er sich als Bündnispartner des Westens beim European Green Deal präsentieren konnte. Lithium gilt als Schlüsselelement für die Energiewende.
Bei den Protesten in Georgien – hier ein Überblick, worum es geht – solidarisierte sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im vergangenen Dezember mit den Demonstranten.
Wie viele Menschen müssen in Serbien noch auf die Straße gehen, damit das auch dort passiert?
In der Region jedenfalls könnten die Proteste einen positiven Effekt auf die Zivilgesellschaften der restlichen Beitrittskandidaten haben und Menschen Mut machen, ebenfalls auf die Straße zu gehen. Denn fast jedes Land in der Region hat seine eigenen, schmerzhaften Erfahrungen mit tödlicher Baukorruption.