Serbiens Studierende fordern die Regierung heraus
In Serbien finden derzeit die größten Massenproteste seit den Neunzigerjahren statt. Die Bilder sind beeindruckend. Am Montag blockierten Zehntausende die „Autokomanda“, ein zentraler Verkehrsknotenpunkt in der Hauptstadt Belgrad. Drohnenbilder zeigen ein Lichtermeer, das an ein Freiluftkonzert erinnert.
„Die Atmosphäre war toll! Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele Menschen an einem Ort gesehen“, sagt Jelica Filipović. Die 21-Jährige studiert Germanistik in Belgrad. Seit Anfang Dezember hält sie, gemeinsam mit anderen Studierenden, ihre Fakultät besetzt. Vorlesungen und Prüfungen sind bis auf weiteres ausgesetzt. Die Studierenden vernetzen sich untereinander und werden von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen unterstützt. Jelica zählt einige auf: Gewerkschaften, Krankenpfleger, Professoren, Pensionisten. Aber auch Bauern, die mit ihren Traktoren in die Stadt fahren, um die Straßen zu blockieren, oder Restaurantbesitzer, die gratis Essen an die Universitäten liefern. Bei einem Protest hat jemand kurzerhand einen Pizzaofen samt Generator auf die Straße mitgenommen. Taxiunternehmen stellen ihre Autos quer, um die Demonstranten zu schützen.
In Serbien, einem EU-Beitrittskandidaten, finden seit sieben Jahren gehäuft Proteste statt. Mal ging es um den geplanten Bau einer Lithium-Mine im Westen Serbiens (Lesen Sie hier unsere Reportage dazu), dann wieder um gewaltverherrlichende Sprache im öffentlichen Diskurs (Hier unser Bericht) und zuletzt um Tricksereien bei den Parlamentswahlen (Hier eine Analyse, wie genau und was Briefkästen damit zu tun haben).
Jetzt ist wieder etwas passiert.
Die Tragödie von Novi Sad
Am 1. November vergangenen Jahres stürzte in Novi Sad, der zweitgrößten Stadt Serbiens, das Dach eines Bahnhofes ein. 15 Menschen kamen dabei ums Leben. Auch eine Studienkollegin von Jelica Filipović war darunter. Kurz darauf begehrten die Studentinnen und Studenten auf. Sie werfen ihrer Regierung Korruption und mangelnde Transparenz in der Bauwirtschaft vor.
„Wir waren unter den Ersten, die am 3. Dezember unsere Fakultät besetzt haben“, erinnert sich Jelica. Der Infrastrukturminister Goran Vesić sowie der Handelsminister Tomislav Momirović traten zurück. Aber die Proteste rissen nicht ab und Aleksandar Vučić, Serbiens Präsident und der tonangebende Politiker im Land, ging in die Offensive. Er machte – wie schon bei Protesten zuvor – westliche Geheimdienste für die Situation verantwortlich. Jelica Filipović kann darüber nur lachen. Die Studierenden werden von niemandem bezahlt, beteuert sie, und hätten nicht einmal einen Anführer oder eine Anführerin. Auch die serbische Opposition spielt keine Rolle. Die Studierenden organisieren sich basisdemokratisch und stellen seit Wochen klare Forderungen an ihre Regierung.
Chinas Einfluss in Serbien
Dazu gehört: Die Veröffentlichung aller Verträge und Unterlagen zu dem Bauvorhaben in Novi Sad und – sollte es zu Korruption gekommen sein – die strafrechtliche Verfolgung der Schuldigen. Involviert war auch eine chinesische Baufirma. Peking investiert Milliarden in den Infrastruktur,- und Energiesektor Serbiens und vergibt Kredite an das Balkanland. Daraus ist eine finanzielle Abhängigkeit entstanden, die sich auch politisch immer mehr manifestiert. Etwa, wenn Vučić in der Taiwan-Frage eisern die Position Pekings bekräftigt oder Plakate von Xi Jinping plakatieren lässt, weil Chinas Präsident während der Corona-Pandemie Impfstoff geliefert hat.
Die Proteste richten sich also auch gegen den immer stärker werdenden Einfluss Chinas in Südosteuropa. Für Peking ist die Region ein Puzzleteil im Infrastruktur-Projekt einer Neuen Seidenstraße.
Gestern ist aufgrund des nicht abreißenden Drucks Serbiens Ministerpräsident Miloš Vučević zurückgetreten. Viele zeigen sich davon völlig unbeeindruckt. Das wahre Machtzentrum in Serbien ist nicht die Regierung, sondern Präsident Aleksandar Vučić.
Ablenkungsmanöver Kosovo?
„Viele von uns sind bereit, den Protest über Monate aufrechtzuerhalten. Am Ende ist es nur ein Jahr in unserem Leben“, sagt Jelica Filipović. Auf Nachfrage hin, ob sie ihren Namen im profil-Newsletter ändern will, sagt sie: „Ich habe keine Angst. Wenn wir Angst haben, können wir nichts erreichen.“
Für Vučić, der angekündigt hat, die Hälfte der Minister auszuwechseln, könnte es jetzt richtig eng werden. Gut möglich, dass er – wie auch schon bei den vorherigen Protesten – versuchen wird, mit seinem Lieblingsthema Kosovo abzulenken.
Im Kosovo finden am 9. Februar Wahlen statt und Vučićs Widersacher Albin Kurti, der Premier des Landes, lässt seine Muskeln im serbisch dominierten Norden des Landes spielen.
Aber selbst im Norden des Kosovo – und das ist ein absolutes Novum – demonstrieren Teile der serbischen Minderheit gegen Vučić. Das ist insofern beeindruckend, weil der Großteil von ihnen von Geldern seiner Regierung abhängig ist.