Kämpfe in der ostukrainischen Stadt Severodonetsk am gestrigen Diensttag.
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Ukraine-Krieg: Sind wir langsam "kriegsmüde"?

Die russische Invasion hält an. Die westliche Öffentlichkeit hört nur noch mit einem Ohr hin. Über das Problem der schwindenden Aufmerksamkeit.

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Guten Morgen!

Wenn Sie die profil-Morgenpost morgens lesen, sind Sie jetzt wahrscheinlich noch recht ausgeschlafen und nehmen es mir nicht übel, wenn ich etwas über die Müdigkeit schreibe, die uns alle erfasst, wenn sich ein Thema sehr lange hinzieht. Über das Neue unterhalten wir uns gern: über die Abschaffung der Kalten Progression (gestern verkündet), über die Niederlage der österreichischen Fußballnationalmannschaft gegen Dänemark (vorgestern erlitten), oder vielleicht gerade noch über die Heard-Depp-Saga (Urteil vor nicht ganz zwei Wochen). Aber wie ist das mit dem Krieg in der Ukraine? Heute ist der 111. Tag der russischen Invasion, und wie genau verfolgen wir die Ereignisse noch? Das soll nicht vorwurfsvoll klingen, es ist nun mal eine ganz normale Eigenschaft des menschlichen Gehirns, dass es das (scheinbar) immer Gleiche in der Wahrnehmung etwas nach hinten rückt.

Nur ein Beispiel: Hat die Ukraine eigentlich die schweren Waffen bekommen, die Deutschland dem Land versprochen hat? Hm.

Tatsächlich ist die Debatte darüber abgeflaut, sobald die Bundesregierung ankündigte, der Ukraine solche Waffen zukommen zu lassen. Das war im April. Bis heute ist keine einzige der versprochenen Waffen in der Ukraine eingetroffen, kritisierte Andrij Melnyk, der ukrainische Botschafter in Deutschland.

Das westliche Bündnis ist säumig, und die Öffentlichkeit hört nur noch mit einem Ohr hin. Der ziemlich zynische Begriff der "Kriegsmüdigkeit" des Westens macht die Runde. Zynisch deshalb, weil wir von den Kriegshandlungen nicht betroffen, sondern bloß der Berichterstattung darüber müde geworden sind. Dabei ist nichts so dringlich, wie die Versorgung der ukrainischen Armee mit Waffen und Munition. Nichts deutet darauf hin, dass der russische Kriegsherr Wladimir Putin die Kampfhandlungen reduziert oder gar einstellt.

Das ist der Grund dafür, weshalb Auftritte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij vor westlichen Parlamenten, und, umgekehrt, Reisen von westlichen Regierungschefs nach Kyiv (Kiew) so wichtig sind – sie helfen, die Aufmerksamkeit wieder auf diesen für die Welt so entscheidenden Krieg zu lenken. Es ist keine "Show", es ist Teil der in einer Demokratie notwendigen Öffentlichkeitsarbeit.

Noch im Juni werden Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron, Italiens Ministerpräsident Mario Draghi und Deutschlands Kanzler Olaf Scholz in Kyiv erwartet.

Und heute trifft US-Verteidigungsminister Lloyd Austin in Brüssel ein und trifft die Partner der "Kontaktgruppe Ukraine" und der Nato. Es geht um… Waffenlieferungen an die Ukraine.

Und Österreich? Wir meinen, dass uns die Debatte um Waffenlieferungen nicht berührt, weil wir ja "militärisch neutral" sind. Man kann es auch so formulieren: Wir haben ein Gesetz, das es uns untersagt, ein Land militärisch zu unterstützen, von dem wir hoffen, dass es sich gegen einen Aggressor verteidigen kann. In profil können Sie dazu zwei – einander widersprechende – Gastkommentare lesen: Einen von der Autorin Marlene Streeruwitz und einen von Martin Weiss, derzeit noch Österreichs Botschafter in den USA (er gibt darin seine persönliche Ansicht wieder). Bilden Sie sich Ihre Meinung – und bleiben wir alle aufmerksam!

Einen schönen Tag wünscht

Robert Treichler

 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur