Morgenpost

Schriftstellerin Valerie Fritsch: „Viele Formen der Liebe scheitern auf grausame Weise“

Die Grazer Schriftstellerin Valerie Fritsch hat einen eindrücklichen Roman über die dunklen Seiten der Mutterliebe geschrieben. Ein Gespräch über familiäre Grausamkeit und „Gefühlsmonster“.

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In Ihrem neuen Roman „Zitronen“ lebt die Familie Drach „am Rande des Ortes“ ein vor aller Augen verborgenes Dasein. Ein sehr österreichisches Existenzmodell?
Fritsch
Am Rande ist man schnell, geschlossene Machtsysteme können überall entstehen, Türen zugesperrt, Vorhänge zugezogen werden. Wenn dann noch genug Menschen die Augen verschließen, schaffen es auch die eigenartigsten und schrecklichsten Phänomene, als Normalität zu gelten, sogar für die Betroffenen.
Vater Drach ist ein Schläger, der die Familie verlässt, worauf die Mutter ihren Sohn August emotional erpresst und ihn mittels Medikamenten krank macht. Darf man sie „Gefühlsmonster“ nennen?
Fritsch
Den Menschen an sich je Monster zu nennen, liegt mir fern, auch wenn er mitunter Monströses tut. Diese Mutter ist keine Sagengestalt, aber eine Frau, die an einer psychischen Störung leidet, sehr reale Verbrechen an ihrem Sohn begeht. Die perfider Weise auch noch in der Gestalt der aufopfernden Liebe daherkommen. Es ist also ein lupenreiner Hochverrat.
„Ein sprachgewaltiges Buch über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom“, wirbt der Verlag. Was treibt eine am diesem Symptom erkrankte Mutter an?
Fritsch
Lilly Drach reguliert ihre eigenen Unsicherheiten an ihrem Sohn, funktioniert besser, wenn es ihm schlecht geht. Sie fühlt sich als seine Retterin – und verbirgt vor sich selbst, dass sie auch der Grund für seine Not ist. Die Krankheit des Kindes verschafft ihr Aufmerksamkeit, die Rolle der heldenhaft Pflegenden Bewunderung.
Die öffentliche Reaktion auf Münchhausen-Fälle ist Entsetzen. Wollen wir uns nicht eingestehen, dass Mutterliebe oft sehr dunkle Seiten hat?
Fritsch
Viele Formen der Liebe scheitern auf grausame Weise. Einige Menschen finden keine angemessene Übersetzung für das, was sich in ihrem Inneren abspielt, umso weniger, wenn es sich um negative Gefühle handelt. Sie werden gewalttätig, haben keine Bewältigungsmechanismen, können nicht mit Widerstand, Zurückweisung und Ambivalenzen umgehen. Und gerade die Grausamkeit einer Mutter, die gesellschaftlich doch eine beschützende Heiligengestalt sein soll, trifft uns besonders.
„Wer sich in Familie begibt, kommt darin um“, behauptete der Schriftsteller Heimito von Doderer.
Fritsch
Familie ist schon im besten Falle eine wilde, einen für immer prägende und konsumierende Angelegenheit. Kindheit ist schließlich nichts vom Rest des Lebens Abgekoppeltes, es ist die Zeit, in der man Schritt für Schritt zu dem Erwachsenen heranwächst, der dann entscheidet, wer man sein will und kann. Für eine eigene Identität bedarf es einer Kraftanstrengung, und für eine Flucht aus alten Mustern und Systemen einer umso größeren. Unmöglich ist aber nichts, das ist das Schöne am Menschsein. Und das Schreckliche.
Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.