Morgenpost

Warnung vor den Maulkörben

Eine literarische Aktualität: Die britische Autorin Kay Dick hat bereits 1977 das inzwischen weit verbreitete Misstrauen gegen die Kunst und die Sehnsucht nach einer radikalen Cancel Culture erahnt.

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Stellen wir uns doch, nur aus Neugier auf dieses Gedankenspiel, ein paar Minuten lang eine Welt vor, in der Künstlerinnen und Künstler von einem allgegenwärtigen Mob, einer Art Bürgerwehr mit anti-individualistischer Gesinnung, an ihrem Tun gehindert und drakonisch bestraft werden. Einfach so. Weil sie malen, komponieren, dichten, gestalten. Stellen wir uns also eine Gegenwart vor, in der kreative Menschen alltäglicher Aggression ausgesetzt sind, ihrer Produktionsmittel beraubt, auch physisch drangsaliert werden.
Die britische Schriftstellerin Kay Dick, geboren im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs, starb 2001, 86-jährig, von der Welt weitgehend vergessen. Sie ließ 1977 in einem aus neun einander lose verbundenen Kurzgeschichten kompilierten Band dieser Horrorfantasie freien Lauf – und landete mit „They“ (Untertitel: „A Sequence of Unease“) seinerzeit einen gewaltigen Flop. Nachdem die Hardcover-Edition kaum verkauft worden war, strich der Verlag gegen den ausdrücklichen Willen der Autorin die geplante Taschenbuchausgabe, das Werk verschwand in der Versenkung.

Klima des Terrors

Unease, also Unbehagen, ist ein Hilfsausdruck für die Atmosphäre, die Kay Dick in harter, radikal schnörkelloser Sprache heraufbeschwört: ein Klima des Terrors, in der auch das Leben alleine, ohne Familie, Misstrauen hervorruft und brutale Sanktionen nach sich ziehen kann.

Eine solche Dystopie wollen Sie sich lieber nicht vorstellen?
Nun, die schlechte Nachricht ist: Wir leben bereits in einer Welt, die der oben beschriebenen erstaunlich ähnlich sieht, in einer Zeit jedenfalls, in der ein Poet wie Salman Rushdie seit Jahrzehnten auf der Todesliste religiös Verblendeter steht und vor nicht einmal einem Jahr auf offener Bühne niedergestochen wurde. Die Zahl der attackierten und zensurierten Kunstwerke steigt weltweit steil an – und auch die identitätspolitisch vielfach geforderte Entfernung, gar Vernichtung von Arbeiten, die als „kulturelle Aneignung“ oder in anderem Sinne „unpassend“ diffamiert werden, taucht als Motiv in der internationalen Kulturberichterstattung regelmäßig auf.
In Putins Russland sind „zu kritisch“ arbeitende Kunstinstitutionen in schwere Bedrängnis geraten; in Erdoğans Türkei werden Menschen, die unliebsame Werke herstellen, reihenweise bekämpft und unter Arrest gestellt. Seit 2015 verbüßt beispielsweise die kurdische Folksängerin Nûdem Durak eine 19-jährige Gefängnisstrafe, muss Folter und Isolationshaft ertragen – wegen des Singens politischer Lieder, denen vom Regime „terroristische Propaganda“ unterstellt wird. Und im Iran werden oppositionelle Filmemacher wie Jafar Panahi und Mohammad Rasulof wegen ihrer allegorisch lesbaren Kino-Produktionen immer wieder mit Berufsverbot und Hausarrest belegt – oder gleich hinter Gitter verfrachtet.

Ö-Norm

In Österreich ist es noch nicht so weit. Aber die Herrschaft des „Normalen“, einer „normal denkenden Mitte“ (im Gegensatz zu den „extremen Rändern“), für die Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner eintritt,  ist – zumindest versuchsweise – bereits ausgerufen. Kanzler Karl Nehammer ging einen Schritt weiter und nannte Beispiele für „nicht normale“ gesellschaftliche Elemente – darunter auch eine Gruppe, die auf politische Intervention setzt: die sogenannten „Klimakleber“. Sie arbeiten nicht ohne Grund gern an und mit Kunstwerken, weil sie ahnen, dass in Museen und Theatern eingreifendes Denken, gesellschaftliche Visionen daheim sind. Denn auch extrem (wohlgemerkt: nicht extremistisch) zu denken, gehört bekanntlich zu den Aufgaben der Gegenwartskunst. Insofern müssten all jene, die es wagen, in Büchern, Bildern und auf Bühnen mit „riskanten“ Gedanken zu spielen, den (politisch proklamierten) Maximen der „normal denkenden“ Mehrheit fern sein.

Eine gute Nachricht gilt es immerhin zu vermelden: Dicks prophetische Etüde des schleichenden Horrors liegt nun, neu entdeckt durch einen Zufallsfund im Antiquariat, nach Jahrzehnten wieder in den Buchläden – und erstmals sogar auf Deutsch vor. „Sie. Szenen des Unbehagens“, erschienen im Verlag Hoffmann und Campe, übersetzt von Kathrin Razum, ergründet auf makabre Weise Kunstfeindlichkeit und Cancel Culture.
Wir dürfen uns übrigens nicht einreden, in Sachen Kunstverboten „automatisch auf der richtigen Seite zu stehen“, schreibt die Schriftstellerin Eva Menasse in ihrem klugen Nachwort zur deutschen Ausgabe: „denn auch unsere Reaktionen beruhen auf lange antrainierten Automatismen eines sogenannten Weltbildes. Viele von uns würden etwa reflexartig für das Verbot von vermeintlich antisemitischen, rassistischen oder irgendwie ,rechten’ Veranstaltungen/Verlagen sein, ohne genau über Kriterien und rote Linien nachgedacht zu haben.“ Und der Preis, den wir für jede Einschränkung des Meinungsspektrums zahlen, sei leider immens. „Denn je mehr man, aus welchen gut gemeinten Gründen auch immer, einschränkt, desto mehr wird nach weiterer Einschränkung, nach Boykott, Verbot und Zensur geschrien, und zwar von allen Seiten. Die Maulkörbe zeugen sich fort.“

Einen toleranten Dienstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.