Morgenpost

Warum ein Wiener Syrer die Offensive in seiner Heimat gutheißt

Die Kräfteverhältnisse in Syrien sind dreizehn Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs mehr als kompliziert. Ein junger Syrer über seine Sicht der Dinge.

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Abud kann sich an diesem Freitag nicht wirklich konzentrieren. Nicht mit den Kindern spielen, nicht richtig zuhören, das Handy bleibt in seiner Hand, er schaut er Video um Video, Bild um Bild, wie Oppositionstruppen in seiner Heimat vorrücken. „Schau, wo sie jetzt sind“, sagt er und zeigt die aktuellen Frontverläufe her. Abud lebt seit etwas mehr als drei Jahren in Österreich, seine Familie in der Provinz Idlib, die größtenteils von islamistischen Rebellen kontrolliert wird. Sie flohen dorthin nachdem das Assad-Regime ihre Heimatstadt Kafranbel im Jahr 2020 zurückeroberte. 

In der vergangenen Woche hat das Regime die Kleinstadt aber wieder verloren. Fast im Stundentakt verschoben sich die Grenzen, die Kämpfer haben mittlerweile die Großstadt Aleppo eingenommen und stehen vor der viertgrößten Stadt Hama. Es ist ein Zusammenschluss von etwa 20 Milizen, die meisten sind islamistisch ausgerichtet. Expertin Kristin Hellberg bezeichnete sie auf Deutschlandfunk als „Post-Dschihadisten.“ Sie haben gute Beziehungen zur Türkei, sind extremistisch, haben aber keine internationalen Bestrebungen, sondern konzentrieren sich nur auf Syrien. Führend ist die Gruppe HTS (Hai'at Tahrir ash-Sham). Sie hat seit mehreren Jahren die Kontrolle über die Enklave in der Region Idlib, in der Abuds Familie wohnt. 

Die aktuelle Lage in Syrien

Abuds Heimatstadt Kafranbel ist nicht mehr in Kontrolle des Assad-Regimes.

Gegner das geringere Übel

Abud ist weder Islamist noch Dschihadist, warum freut ihn dieser Vorstoß dennoch? Als er das erste Mal gegen Syriens Diktator Bashar al-Assad demonstrierte, was Abud gerade einmal vierzehn Jahre alt, wenig später flüchtete er aus Syrien, lebte jahrelang in der Türkei. Assad ist für ihn der Mann, der Syrien zerstört hat. Ihn macht er dafür verantwortlich, dass er seine Mutter seit elf Jahren nicht mehr gesehen hat. Dass er nicht in sein Heimatland zurück kann ohne Angst vor Gefängnis, Folter und Tod. Assads Gegner, so Abud, wären das geringere Übel. 

Damit ist er vermutlich nicht allein. In vielen westlichen Medien wird kein großer Unterschied zwischen den Rebellen und dem sogenannten Islamischen Staat (IS) gemacht.  In den Augen Abuds sind die aktuell erfolgreichen islamistischen Gruppen im Vergleich mit Assad und dessen Unterstützern (Iran, Russland und Hisbollah) geradezu harmlos. 

Für das Assad-Regime kommt die Offensive zu einem heiklen Zeitpunkt. Seine Verbündeten schwächeln, ihre Energien konzentrieren sie auf andere Konflikte. Expertin Helberg geht davon aus, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Angriffe abgesegnete. Er möchte den Druck auf Assad erhöhen, damit er einer Aussöhnung nach türkischen Bedingungen zustimmt. Erdoğan möchte zumindest einen Teil der mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei zurückschicken und die kurdischen Truppen schwächen.

Keine konstruktive Kraft, aber eine Kraft

Abuds Familie lebt seit vier Jahren in den von der HTS kontrollierten Gebieten. Wie geht es seiner Familie dort? „Die HTS sind nicht gut, aber sie sind nicht so schlimm wie der IS. Sie sind weniger radikal.“ Vor allem fürchtet seine Familie derzeit die Luftschläge von Assad und seinen Verbündeten. Seine Schwester begann vor wenigen Wochen in Idlib zu studieren, wegen der Luftangriffe auf öffentliche Einrichtungen geht sie vorerst nicht mehr auf die Uni. 

Abuds Heimatort Kafranbel wurde zu Beginn des Aufstands für seine oft ironischen Protestplakate bekannt. Sie kritisierten das Regime sowie religiöse Extremisten. Assad eroberte die Stadt 2020 von den Rebellen zurück – ein großer Triumpf. Seit wenigen Tagen ist die Kleinstadt wieder in den Händen der Islamisten. Wird Abuds Familie zurückkehren? „Jetzt ist es noch nicht erlaubt, sie warten einmal ab.“ 

Seine Mutter geht davon aus, dass der Krieg wieder richtig eskaliert. Sie sorgt sich, dass seine beiden in Syrien lebenden Brüder eingezogen werden. Dass die Milizen eine konstruktive Kraft sind, glaubt Abud nicht. Doch die Rebellengruppen seien in diesem Teil Syriens die stärkste Oppositionskraft – und damit die letzte Hoffnung im Kampf gegen Assad.

Clara Peterlik

Clara Peterlik

ist seit Juni 2022 in der profil-Wirtschaftsredaktion. Davor war sie bei Bloomberg und Ö1.