Was 2023 innenpolitisch passieren könnte
In der aktuellen profil-Monatsumfrage des Meinungsforschungsinstituts Unique Research liegen SPÖ und FPÖ mit jeweils 26 Prozent an der Spitze. Die ÖVP erreicht mit 20 Prozent ihren tiefsten Wert seit mehreren Jahren. Die Grünen sind bei elf, die Neos bei neun Prozent. Vor genau einem Jahr, im Dezember 2021, lagen ÖVP und SPÖ noch mit je 27 Prozent voran, die FPÖ erreichte 17 Prozent. Bei den Kleinparteien verhielt es sich wie heuer: Die Grünen kamen auf elf, die Neos auf neun Prozent. Der große Verlierer des Jahres ist also Karl Nehammer, der große Gewinner Herbert Kickl. Was bedeutet das für 2023? Eine profil-Kristallkugelrundschau.
ÖVP
Zum Jahresbeginn 2023 hat die ÖVP ein wenig Anlass zur Freude. Der nach ihr benannte Korruptionsuntersuchungsausschuss geht zu Ende. Trotz der miesen Stimmung ist Kanzler Karl Nehammer unter den ÖVP-Funktionären der beliebteste Parteichef seit Langem. Für „den Sebastian“ begeisterten sich die Funktionäre kurzfristig, „den Karl“ mögen sie nachhaltig.
Es gibt auch keinen anderen. Die mögliche andere, Verfassungsministerin Karoline Edtstadler, arbeitet noch an ihrem Netzwerk. Überdies darf jeder ÖVP-Obmann eine Nationalratswahl versemmeln – nur Reinhold Mitterlehner war nicht einmal das vergönnt. Karl Nehammer wird daher auch in einem Jahr noch Bundeskanzler und ÖVP-Obmann sein, es sei denn die Koalition zerbricht, oder er geht stressbedingt von selbst. Dann kommt die andere (siehe oben) schon früher.
SPÖ
So wie die Österreicherinnen und Österreicher ins neue Jahr könnte auch Pamela Rendi-Wagner bei Neuwahlen 2023 ins Kanzleramt rutschen, entweder mit einer großen Koalition oder einem rot-grün-pinken Bündnis.
Sie wäre dann der lebende Beweis dafür, dass in der Politik Zähigkeit mehr zählt als Talent. Als erste gewählte Bundeskanzlerin hätte sie es den Alpha-Männern inner- und außerhalb der SPÖ gezeigt, namentlich Christian Kern, Sebastian Kurz, Karl Nehammer, Hans Peter Doskozil, Michael Ludwig. Wird regulär 2024 gewählt, bieten sich Rendi-Wagner allerdings einige Gelegenheiten, auf dem Weg ins Kanzleramt doch noch auszurutschen.
FPÖ
Herbert Kickl ist einer der unbeliebtesten Politiker des Landes, seine Partei liegt dennoch auf Platz 1. Was möglich wäre, würde Kickl nur ein wenig besser ankommen? Vorstellbar ist, dass der FPÖ-Obmann 2023 wider sein Naturell eine kleine taktische Charmeoffensive startet.
Adressaten wären nicht nur die Wähler, sondern auch die Wählerinnen. Interne blaue Analysen zeigen, dass die habituell männliche FPÖ vermehrt auch Frauen anspricht. Auch wenn Kickl bei Neuwahlen 2023 zulegt, müsste er wohl in der Opposition bleiben. Koalitionspartner wird er nicht finden, da hilft keine Charmeoffensive.
Grüne
Ob es 2023 Neuwahlen gibt, liegt an Werner Kogler. Karl Nehammer und die ÖVP wollen unbedingt Kanzler bleiben. Werner Kogler will Vizekanzler bleiben. Ob seine Partei das auch unbedingt will, ist nicht so klar. Die jüngsten koalitionären Streitereien um Schengen, Migration, Arbeitslosenversicherung und Klimaschutzgesetz schaden den Grünen mehr als der ÖVP.
Solange die Achse Nehammer-Kogler hält, bleibt die Koalition aber trotz aller Unruhe stabil. Kündigt Kogler das Bündnis 2023 auf, wäre es auch ein persönliches Scheitern. Als Spitzenkandidat ginge er angeschlagen in Neuwahlen. Die Alternative hieße eher Leonore Gewessler als Sigrid Maurer.
Neos
Unter allen Vorsitzenden der Parlamentsparteien ist Beate Meinl-Reisinger in den Umfragen die beliebteste. Wäre sie die SPÖ-Chefin, wäre ihr das Kanzleramt gewiss. Bisweilen wirkt sie auch wie eine SPÖ-Vorsitzende und weniger wie die Obfrau einer wirtschaftsliberalen Partei.
In den vergangenen Monaten bemühte sich Meinl-Reisinger wieder spürbar um eine bürgerliche und mittige Positionierung, etwa in der Migrationsfrage. Soll sich eine Dreierkoalition aus SPÖ, Grünen und NEOS und damit eine pinke Regierungsbeteiligung ausgehen, müssen die NEOS ÖVP-Wählerinnen und Wähler gewinnen.
Ihr Morgenpostler wünscht einen angenehmen Mittwoch,
Gernot Bauer