Michel Barnier, neuer Premierminister Frankreichs
Morgenpost

Wer eine Regierung bilden können dürfen soll – und wer nicht

Ist es undemokratisch, wenn ein Mitglied der fünftstärksten Partei zum Premierminister ernannt wird? Überlegungen anlässlich Frankreichs Regierungsbildung - und vor der Nationalratswahl.

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Stellen wir uns doch, nicht ganz zufällig 19 Tage vor der Nationalratswahl, drei knifflige Fragen: Soll jemand, der nicht zur Wahl angetreten und dessen Partei im neu gewählten Parlament bloß fünftstärkste Kraft ist, zum Regierungschef ernannt werden? Eher nein, meinen Sie?

Oder soll, zweitens, jemand, der überhaupt keiner Partei angehört und nirgendwo jemals kandidiert hat, die Regierung führen? Nein, das schon gar nicht?

Wäre es denn, drittens, undemokratisch, die ersten beiden Fragen mit Ja zu beantworten?

Tatsächlich gibt die politische Realität in Europa Antworten auf die ersten beiden Fragen. Michel Barnier (73), der neue Premierminister Frankreichs, gehört der Partei „Die Republikaner“ an, der fünftstärksten Fraktion im Parlament. Und Dick Schoof (67), seit Juli dieses Jahres Ministerpräsident der Niederlande, ist parteilos, stand auf keiner Liste, und dennoch wurde der ehemalige Generalsekretär im Justizministerium nach mehr als einem halben Jahr Koalitions-Gezerre aus dem Hut gezaubert.

Eine Frage der Stabilität

Die dritte Frage, ob all das undemokratisch sei, ist heftig umstritten. In Frankreich toben die linken Parteien der „Neuen Volksfront“, weil sie als Wahlsiegerinnen bei der Regierungsbildung übergangen worden seien. Staatspräsident Emmanuel Macron nützte sein verfassungsgemäßes Recht, jemanden seiner Wahl mit der Regierungsbildung zu beauftragen, nach langem Sondieren auf seine Weise. Sein Ziel war eine Regierung, der weder die weit rechtsstehende Partei Rassemblement National, noch die weit linksstehende „Die Unbeugsamen Frankreichs“ angehören. Sein Argument: mit den beiden genannten sei keine „stabile“ Regierung möglich.

Was Macron mit der Neuen Volksfront tat, könnte, mit umgekehrten Vorzeichen, auch Österreichs Bundespräsident Alexander Van der Bellen am Beispiel der FPÖ vollführen: den Wahlsieger links, respektive rechts liegen zu lassen. Undemokratisch – und de facto unmöglich - wäre das, wenn dabei die Mehrheit übergangen würde, doch die relative Mehrheit bei einer Wahl ist eben keine Parlamentsmehrheit. Barnier hat es besonders schwer, denn er ist darauf angewiesen, dass die ausgebremsten Links- und Rechtsparteien ihm nicht gleichzeitig das Misstrauen aussprechen. Dann wäre seine Amtszeit rapide zu Ende.

Dick Schoof wiederum dient den Koalitionsparteien der niederländischen Regierung als neutrale Persönlichkeit, weil keine der Parteien den Ministerpräsidenten stellen sollte – insbesondere nicht der rechte Geert Wilders. Doch diese Konstruktion ermöglichte erst die Regierungsbildung mit dem Rechtspopulisten.

Was heißt all das für Österreich? Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Bildung einer Regierung eine komplexe Aufgabe sein kann, und dass dem Bundespräsidenten eine deutlich bedeutsamere Rolle zukommt. Wenn es eine Partei wie die FPÖ gibt, mit der die anderen keinesfalls regieren wollen, dann ändert das den Prozess der Mehrheitsfindung. Entscheidend ist, dass die Wählerinnen und Wähler nachvollziehen können, aus welchen – demokratischen und verfassungsrechtlich einwandfreien – Gründen eine Regierung zustande gekommen ist. Setzte sich die Überzeugung durch, das Wahlergebnis sei ignoriert worden, wäre dies eine existenzielle Gefahr für die Demokratie.

Die Politik ist ein Stück komplizierter geworden. Barnier und Schoof sind dafür die besten Beispiele. Noch nie zuvor hatten Premierminister zu Beginn ihrer Amtszeit so großen Erklärungsbedarf, um dem Volk klarzumachen, warum sie eigentlich an der Regierung sind. 

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur