Morgenpost

Wie böse ist der Humanismus?

Die Skandalisierung des jüdisch-deutschen Philosophen Omri Boehm, der heute die Eröffnungsrede der Wiener Festwochen halten wird, veranschaulicht die gefährliche Verhärtung der Positionen zum Nahostkrieg.

Drucken

Schriftgröße

Wenn der Philosoph Omri Boehm sich heute Abend am Wiener Judenplatz ans Mikrofon stellen wird, um seine „Rede an Europa“ zu halten, sind Gegendemonstrationen zu erwarten – und Grenzüberschreitungen zu befürchten. Denn Boehm, dem bislang stets der Ruf eines Vermittlers und keineswegs der eines Brandredners vorauseilte, gehört seit ein paar Tagen eher unerwartet zu den Symbolfiguren einer massiven weltanschaulichen Spaltung.

Ariel Muzicant, der einstige Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) in Wien, meinte am vergangenen Wochenende, dass Boehm keinen Respekt vor dem Judenplatz zeige. Mit dem wenig lehrreichen Satz „Wäre ich 30 Jahre jünger, würde ich am Dienstag hingehen – und Eier werfen“ wird Muzicant zitiert – als läge in dem impliziten Aufruf zum Eierwurf auf Andersdenkende nicht eine deutlich größere Respektlosigkeit als im Sprechen eines friedenspolitisch bewegten jüdischen Intellektuellen, der am Judenplatz die fatalen Komplikationen des Nahostkriegs in den Blick nehmen will. 

Boehms Vortrag wurde in den vergangenen Tagen, noch ehe er überhaupt gehalten worden ist, schon skandalisiert, als hätte der 45-Jährige etwas völlig Unannehmbares in den Raum gestellt. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) verstieg sich im gestrigen Ö1-„Mittagsjournal“ gar zu der Aussage, Boehm übe „Kritik an Israel, die keine Kritik an Israel ist, sondern purer Antizionismus und damit Antisemitismus“. Oskar Deutsch, derzeitiger Präsident der IKG, meinte, Boehm ebne „Antisemiten in aller Welt den Weg“. Und ein potenter Festwochen-Sponsor zog sich wegen der Wahl des Redenschauplatzes kurzfristig von dem Projekt der diesjährigen Eröffnungsrede zurück.

Was also hatte Boehm, Verfechter eines „humanistischen Universalismus“ und vor wenigen Monaten erst mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung ausgezeichnet, tatsächlich Anstößiges gesagt? Er tritt seit Langem für einen – gegenwärtig utopisch wirkenden – gemeinsamen Staat von Juden und Palästinensern ein (und führt gute Argumente gegen die Sinnhaftigkeit und den Realismus einer Zweistaatenlösung ins Treffen); er wendet sich gegen die Instrumentalisierung der Shoah durch die rechtsextreme Regierung Israels, die einen „ethnischen Nationalismus“ im Sinne habe, und bezweifelt die aktuelle Demokratiefähigkeit Israels. Mit keinem Wort hat Boehm die Singularität des Holocaust in Zweifel gezogen, wie seitens der IKG behauptet wird.

Im Kreuzfeuer

Die Stadt Wien und die Festwochen stehen damit erneut in einem Kreuzfeuer, mit dem wohl nicht einmal der – produktive Provokationen nicht scheuende – Intendant Milo Rau gerechnet hat. In hiesigen Medien, die seit Wochen den Antisemitismusverdacht gegen das Festival schüren, wurden inzwischen Kommentarstimmen laut, die besorgt beklagen, dass die Festwochen eine „schwere linke Schlagseite“ hätten, Teil eines „linksliberalen Mainstreams“ seien, der  „Normaldenkende“ gewissermaßen gedankenlos als „rechts“ einstufe, mit Tendenz ins „Radikale“ und „Extreme“. Als ginge die Gefahr, die westliche Gesellschaften derzeit am meisten bedrohe, von den Programmen debattierwütiger Kulturfestivals aus. 

Aber letztlich passt auch die überhitzte österreichische Debatte um einen untadeligen Denker wie Omri Boehm nur ins Bild einer Zeit, in der alle ideologischen Sicherheiten ins Rutschen geraten sind: Während die scheinbar progressiven Stimmen sich jäh zu einem Chor der Entrechteten mit bisweilen deutlich antisemitischen Obertönen vereint haben, inszenieren sich die ultrarechten Kräfte europaweit als die aufrechtesten Antifaschisten, um unter dem Deckmantel der Holocaust-Mahnung ihrer Islamophobie Ausdruck verleihen zu können. 

Omri Boehm verweigert die Zugehörigkeit in beiden Lagern. Er denkt selbst. Und plädiert für Freundschaft, Solidarität, Konfliktlösungen und Frieden. Das macht ihn offenbar allseits verdächtig.

Stefan   Grissemann

Stefan Grissemann

leitet seit 2002 das Kulturressort des profil. Freut sich über befremdliche Kunst, anstrengende Musik und waghalsige Filme.