Morgenpost

Wie lange können Sie sich konzentrieren?

Diese Morgenpost dient dazu als Test. Und vertreibt den aufkommenden Kulturpessimismus.

Drucken

Schriftgröße

Ich hätte gern für fünf Minuten Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Aber ich fürchte, ich werde sie nicht kriegen, jedenfalls sicher nicht so lange. Fünf Minuten, das war mal der Gegenwert eines kurzen Moments, aber heute? In der Titelgeschichte der aktuellen profil-Ausgabe „Wie wir verlernt haben, uns zu konzentrieren“ erläutert profil-Redakteur Sebastian Hofer allen, die noch in der Lage sind, einen so langen Text zu lesen, wie die Ablenkungsindustrie auf verdammt clevere Art dafür sorgt, dass wir niemals mit den Gedanken da bleiben, wo wir eigentlich sein wollten, sondern immer schneller dort, wo es uns entgegen unserer Absicht hinzieht. Unsere Finger scrollen, klicken und wischen, das Endgerät pusht und piept und klingelt, und unser Geist, willig, aber mindestens so verführbar wie unser Fleisch, ist längst abgeschweift…

Sind Sie noch da?

Schnell noch eine zweckdienliche Information, ehe Sie ihre Emails checken oder durch eine Partnerbörse scrollen: In der Cover-Strecke finden Sie auch Tipps, wie Sie den Fokus etwas besser bewahren können! „Konzentrationsfähigkeit ist lehr- und lernbar“, schreibt Hofer. Und profil-Redakteurin Franziska Dzugan hat Ratschläge für Eltern zusammengetragen, wie sie reagieren sollen, wenn der Nachwuchs am Handy-Bildschirm klebt. Sorgen machen? Einschreiten? Und ab wann? Sie lesen's im E-Paper!

Falls Sie es tatsächlich bis hierher geschafft haben, habe ich einen kleinen Twist für Sie: Ja, die Ablenkungen nehmen zu, und ja, unsere Konzentrationsfähigkeit macht gern mal schlapp, aber wir müssen deshalb nicht in Kulturpessimismus verfallen. Als der Buchdruck erfunden wurde, fürchteten die Obrigkeiten, das Volk werde wegen der massenhaften Verfügbarkeit von Schriften dem Teufel anheimfallen. Als das Fernsehen in alle Wohnzimmer vordrang, sahen viele angesichts der Berieselung das Ende eigenständigen Denkens gekommen. Und jetzt sollen uns angeblich die Apps unseren Verstand abspenstig machen. Tatsächlich aber wurde die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte immer besser informiert, immer kompetenter, immer mehr in der Lage, komplexe Zusammenhänge zu bewältigen.

Unsere Kinder haben permanent kleine Kopfhörer-Stöpselchen in den Ohren, ein Auge am Handy, das andere am Computer, aber sie wissen verdammt gut über alles, was sie interessiert, Bescheid; sie schlagen uns im Schach, ohne je ein Schach-Buch durchgeackert zu haben (meine persönliche, etwas betrübliche Erfahrung); und sie werden mit der Welt, die sie gestalten, besser klarkommen als wir.

Für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand diesen Schlusssatz liest: Gratuliere, um Ihre Konzentrationsfähigkeit mache ich mir keine Sorgen!

Schönen Tag, und nicht vergessen: Fokus!

Robert Treichler

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur