Ein Mann, der seine Wahlkarte in der Hand hält
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Wien-Wahl: Wenn ein Drittel der Stadt nicht mitbestimmen darf

Hunderttausende leben, arbeiten und zahlen Steuern in Wien – doch ihre Stimme wird bei der Wahl am Sonntag nicht zählen.

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Wien ist eine Stadt der Migranten. Eine von diesen Migranten bin ich. Ich bin nicht in Österreich geboren, meine Muttersprache ist nicht Deutsch und trotzdem sehe ich mich als Wienerin. Damit bin ich bei weitem keine Ausnahme, über 45 Prozent der Wienerinnen und Wiener haben einen Migrationshintergrund. Darunter auch einige meiner Arbeitskollegen, Freunde oder Bekannten. Wien wäre leer ohne uns.

Dennoch können viele Wienerinnen und Wiener nicht über die Zukunft ihrer Stadt mitbestimmen. Noch nie war der Anteil der Wahlberechtigten an der Wohnbevölkerung so gering wie bei der kommenden Wien-Wahl. Zur Erinnerung: Bei der Wiener Gemeinderats- und Landtagswahl sind – so wie bei jeder anderen überregionalen Wahl in Österreich auch – nur österreichische Staatsbürger wahlberechtigt. Menschen mit EU-Pass dürfen auf Bezirksebene mitbestimmen, Ausländer, die aus Drittstaaten kommen, nicht einmal das. 

Und dabei kommen die größten Ausländergruppen in Wien aus Serbien, Syrien oder der Türkei – Drittstaaten. Würden Sie in Stockholm leben, wäre das anders. Dort sind Drittstaatler nicht nur auf kommunaler, sondern auch auf regionaler Ebene stimmberechtigt. Die Voraussetzung ist, dass man drei Jahre dauerhaft in Stockholm hauptgemeldet ist.

Ein Wahlrecht für Drittstaatsangehörige auf lokaler Ebene gibt es in insgesamt elf EU-Ländern, wie Belgien, Finnland, Irland, Litauen, Ungarn oder der Slowakei. Warum nicht auch bei uns?

In Rudolfsheim-Fünfhaus haben 45,9 Prozent der Bewohner über 16 Jahren keine österreichische Staatsbürgerschaft, in Zentralfavoriten leben sogar 53,1 Prozent Ausländer im wahlberechtigten Alter. Sie sind Teil unserer Stadt, arbeiten oder machen eine Ausbildung, zahlen Steuern – trotzdem können sie nicht mitreden. 

Das liegt unter anderem daran, dass es extrem umständlich ist, die österreichische Staatsbürgerschaft zu bekommen. Die unrealistisch hohe Schwelle zur Sicherung des Lebensunterhalts macht es Geringverdienenden nahezu unmöglich, österreichische Staatsbürger zu werden. 

Wie nicht stimmberechtigte Wienerinnen und Wiener wählen würden, wenn sie könnten, versucht SOS Mitmensch mit der „Pass egal”-Wahl zu imitieren. Bei dem heurigen Durchgang wählten knapp 10.000 Nicht-Österreicher mit. Das nicht repräsentative Ergebnis zeigte, dass linke Parteien wie die SPÖ mit 47,7, die Grünen mit 19,3, oder die KPÖ mit 14,3 Prozent bei den Wählerinnen und Wählern am beliebtesten waren. Die ÖVP und die NEOS bekamen 5,2 und 4,7 Prozent; die FPÖ 8,1 und die Liste HC Strache lediglich 0,7 Prozent. Das Wahlergebnis unterscheidet sich also klar von den Wahlumfragen, bei denen die FPÖ nach der SPÖ die stimmenstärkste Partei ist. 

Egal, wie Migrantinnen und Migranten wählen würden: Bei einem Ausländeranteil von 35,4 Prozent in der Stadt, sollte man darüber diskutieren, wie zeitgemäß unser Wahlsystem oder die Hürden zur Staatsbürgerschaft noch sind. Im Wien-Wahlkampf sprachen sich übrigens SPÖ, Grüne, NEOS und die KPÖ für einen erleichterten Zugang zum Pass aus. Auf Bundesebene ist eine Reform der Staatsbürgerschaft eher unwahrscheinlich, da die Kanzlerpartei ÖVP gegen eine Erleichterung ist.

Obwohl ich keine gebürtige Österreicherin bin, darf ich am Sonntag mitwählen, weil ich einen österreichischen Pass habe. Wählen dürfen ist ein Privileg. Das wird einem nochmal mehr bewusst, wenn man weiß, wie viele andere Wiener es nicht haben.

Natalia Anders

Natalia Anders

ist seit Juni 2023 Teil des Online-Ressorts und für Social Media zuständig.