Wolken des Unbehagens: Tagebuch der politischen Verhältnisse
Wenn aus Ereignissen Entgleisungen werden, ist eine gewisse Sorge um die politische Verfasstheit schon angebracht. Der aus Oberösterreich stammende Schriftsteller Thomas Köck, 38, ist als (vor allem auf Deutschlands Bühnen gefragter) Dramatiker bekannt. Im Suhrkamp-Verlag hat er nun, rechtzeitig vor der Nationalratswahl, eine Art Tagebuch der politischen Rechtsdrehungen in Deutschland und Österreich veröffentlicht, eine „Chronik der laufenden Entgleisungen“. Auf gut 350 kleingedruckten Seiten entfaltet Köck mit sarkastischem Witz jenes ganz alltägliche Pandämonium, an das die meisten von uns bereits bis an den Rand der Normalisierung gewöhnt sind. Dagegen ist vorzugehen. Köcks Beobachtungszeitraum der näheren und ferneren Nachrichtenlage erstreckt sich über ein ganzes Jahr lang, vom 5. Juni 2023 bis zum 4. Juni 2024.
An den Schauspielhäusern in Graz und Wien läuft Köcks Entgleisungsprotokoll derzeit übrigens auch – als Koproduktion (mit Schauspielkräften beider Ensembles) in einer speziellen Bühnenfassung: In Wien ist es, nach der Premiere am vergangenen Sonntag im Rahmen des steirischen Herbstes, zwischen 26. September und 2. Oktober zu sehen, in Graz dann ab 4. Oktober in loser Folge noch sechsmal.
Nicht nur Liebe
Autoren, die sich weltanschaulich offen deklarieren, ziehen nicht nur ungeteilte Liebe auf sich: In der „Presse“ wurden Thomas Köck vor einigen Tagen „systematische Verdrängung und Tabuisierung gesellschaftlicher Probleme“ vorgeworfen, weil er in zwei Passagen zum Vandalismus gegen israelische Flaggen an Synagogen verschwiegen habe, dass die Täter „syrische Teenager“ gewesen seien, die sich Köcks Zentralnarrativ vom neuen österreichischen Rechtsextremismus angeblich nicht recht fügten.
Nun könnte man derlei Kritik als Haarspalterei verbuchen, die einer deutlich lesbaren grundsätzlichen Antipathie gegen linken Interventionismus entspringt („als Österreich-Beschimpfung epigonal, als Satire zahnlos, als Essay hochtrabend pseudowissenschaftlich“); angemessener ist es aber, Köcks Text als produktives, popkulturell informiertes Mäandern durch die Zumutungen der unmittelbaren Gegenwart begreifen. Denn der Autor nähert sich der heimischen Innenpolitik, ohne sich selbst dabei aus dem Spiel zu nehmen (und eben gerade ohne hochtrabenden Akademismus); er diskutiert auch seine eigene Herkunft, nähert sich bangen Ökonomie- und Klassenfragen, um deren (gefühltes und reales) Verhältnis zur Politik zu erforschen.
Es ist dann doch ein wilder Ritt durch die unmittelbare (und unvermittelbare) Gegenwart: vorbei an René Benko, den Identitären, der FPÖ und der AfD, vorbei an Gaston Glock und Karin Kneissl, an Migration und Gaza. An Ideen mangelt es Köck keineswegs. Er bittet sogar ChatGPT – mit heiteren Ergebnissen – um eine Prophezeiung zum Ausgang der kommenden Wahl („Dunkle Wolken des Unbehagens könnten einige Regionen umgeben, während anderswo das Licht der Demokratie weiterhin strahlt“).
Wer in der Frage, wen man am kommenden Sonntag mit einem Kreuz am Wahlzettel unterstützen sollte, noch unschlüssig ist, findet in diesem Buch jedenfalls reiches Anschauungsmaterial zu den ideologischen Dispositionen Österreichs. Seine „Chronik der laufenden Entgleisungen“ sollten der einen, dem anderen Entscheidungshilfen bieten können.
Einen exzellenten Dienstag wünscht Ihnen die Redaktion des profil.