Wollen Sie mit uns streiten?
Guten Morgen!
Ist das, was im Jahr 1955 die beste Variante für Österreich war, auch im Jahr 2022 noch ideal? Oder, anders gefragt: Muss die heimische Neutralität wirklich "immerwährend" sein – oder soll, kann, muss der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine der dringend notwendige Anlass sein, die Neutralität zu überdenken? Oder zumindest die deplorable Ausstattung des Bundesheeres? Macht die für unmöglich gehaltene Tatsache, dass in Europa wieder Krieg herrscht, eine andere Sicherheitspolitik notwendig? Und: Bedeutet der mögliche baldige Nato-Beitritt der EU-Staaten Finnland und Schweden, dass die ihre bisherige Außenpolitik überdenken muss, weil sie bald ohnehin fast nur mehr aus Nato-Staaten besteht?
Auf keine dieser kniffeligen Fragen gibt es einfache Antworten, dazu ist die Gemengelage zu komplex. Umso trefflicher lässt sich darüber diskutieren, dem guten Argument mit einem noch besseren Gegenargument kontern. Ja, das geht, wir haben es ausprobiert: In der neuen profil-Ausgabe, die schon morgen, Freitag, erscheint, debattieren Neutralitäts-Fan und Altbundespräsident Heinz Fischer und AMS-Chef Johannes Kopf, der die Neutralität in Frage stellt, miteinander – leidenschaftlich, kontroversiell, aber nie untergriffig.
Dieses Streitgespräch ist Teil eines neuen profil-Schwerpunkts, den wir "streiten wir!" genannt haben. Wochenlang sind Siobhan Geets, Clemens Neuhold, Wolfgang Paterno, Sebastian Pumberger, Robert Treichler, Christa Zöchling und ich zusammengesessen und haben das "streiten wir!"-Format entwickelt. In verschiedenen Ausformungen: Wohlüberlegten Essays. Polemischen Streitschriften. Pro-und Contra-Debatten von diskursfreudigen Ökonominnen und Ökonomen. Streitgesprächen. Redaktionsinternen Kontroversen – denn wir halten bei profil den Meinungspluralismus hoch, er ist, neben investigativen Aufdecker-Geschichten, (gesellschafts)politischen Analysen und feuilletonistischen Vermessungen von Kultur und Wissenschaft eine der tragenden Säulen von profil. Wir sind eine streitbare Redaktion – im besten Wort-Sinn.
Und wir halten gepflegte Streitkultur, die auf Argumenten und Fakten besteht, für einen wesentlichen Bestandteil jeder Demokratie. Gerade weil sich Politik rasant beschleunigt hat, zur "instant democracy", wie es im Fachjargon heißt. Immer rascher müssen Politikerinnen und Politiker Meinungen zu immer komplexeren Themen präsentieren. Wer nachdenkt, kommt für die Aufregung des Tages zu spät, für fundierte Argumente ist in der Atemlosigkeit zu wenig Platz. Schneller! Lauter! Schriller! Daumen rauf! Daumen runter! Und das alles auf Häppchengröße reduziert – besonders in sozialen Medien. Das kann nur schiefgehen, nicht jede Frage lässt sich auf 140 Zeichen verknappen, manches erfordert mehr Tiefgang.
In den 1970er Jahren grübelte die Regierung Kreisky etwa über die Frage, welches Gesetz Abtreibung straffrei machen soll. Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg und Justizminister Christian Broda tauschten sich darüber in der Monatszeitschrift "Zukunft" auf hohem Niveau in programmatischen und wohlargumentierten Aufsätzen aus. Diese Entdeckung der Langsamkeit klingt wie aus der Zeit gefallen, ist sie auch, heute verfassen Politikerinnen und Politiker keine Essays, in monatlich erscheinenden Zeitschriften schon gar nicht.
Auch im Rest Österreichs wird zu wenig diskutiert – zu oft stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber, sei es in der Flüchtlingsfrage, sei es bei der Corona-Impfung. Gegenseitige Beschimpfungen und verrohte Sprache ersetzen den gepflegten Streit nicht, im Gegenteil. Wir wollen einen Beitrag zur unterentwickelten Streitkultur leisten – dafür brauchen wir aber Sie. Streiten Sie mit uns! Widersprechen Sie uns! Teilen Sie uns mit, was Sie ärgert, stört und empört! Auf profil.at/streit ist dann eine Auswahl der Beiträge nachzulesen – wir freuen uns auf Ihren.
Auf gepflegte Debatten!
Eva Linsinger