Der Fall Teichtmeister und die Filmbranche: Zweierlei Maß
Menschen, die nach Bekanntwerden grauenerregender Tatsachen gerne vernehmlich kundtun, alles immer schon (und naturgemäß auch viel besser) gewusst zu haben als all ihre zögerlichen, gedankenträgen Mitbürgerinnen und Zeitgenossen, sind ein bekanntes Phänomen. Auf den Wellen der rückwirkenden Erkenntnis surft es sich eben besonders selbstgerecht. Der Fall des Schauspielers Florian Teichmeister – und es ist in strafrechtlicher Hinsicht ebenso ein „Fall“ wie im Sinne des Abstürzens und Untergehens – hat viele solcher Gleiter auf den Meeren der öffentlichen Moral in den vergangenen Tagen wieder an Land gespült, wo sie einen unüberhörbaren Chor der Anklage im Dienst des Anstandes gebildet haben. Ihr mahnender Ruf gegen all jene, die es (wie sie) besser hätten wissen und also fundamental anders handeln hätten müssen, dröhnt in den Ohren.
Tatsächlich ist die Vehemenz, mit der dieser Tage angesichts eines geständigen Kindesmissbrauchskonsumenten medial auf die Kulturlandschaft eingedroschen wird, bemerkenswert; die Schlag- und Titelzeilen zu den Runden TV-Tischen und Feuilletonanalysen klingen fast schon hämisch: Von der „Unschuldsmiene einer Kulturnation“ ist da ebenso die Rede wie vom „Wegschauen als Kulturprinzip“, und auch vor der Frage nach der „Verkommenheit“ der ganzen Branche schreckt man nicht mehr zurück. Sind also jene, die mit Teichtmeister seit dem Auftauchen erster Gerüchte im Sommer 2021 noch gearbeitet haben, als in Bausch und Bogen schuldbeladen und ethisch verwahrlost zu betrachten?
Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Natürlich ist es wichtig – und sogar entscheidend –, herausfinden zu wollen, wer was wann genau wusste, um aus möglicherweise verzögerten Reaktionen oder Verdrängungsszenarien für künftige Verdachtsfälle zu lernen – und um eine Vorstellung davon zu bekommen, wo man ansetzen könnte, um Missbrauchstätern möglichst früh Einhalt zu gebieten; die Coverstory des aktuellen profil dreht sich eben darum. Aber nun so zu tun, als hätte man selbstverständlich schon zu dem Zeitpunkt, als die ersten Gerüchte die Runde machten, in aller Härte und Konsequenz durchgreifen nicht nur können, sondern müssen, grenzt an Weltfremdheit und Hochmut.
So steht nun insbesondere Österreichs Filmszene seit knapp zwei Wochen unter Dauerbeschuss, weil Teichtmeister 2021 als Nebendarsteller zweier aktueller Kinoproduktionen fungierte. Doch die Dreharbeiten von Marie Kreutzers Sisi-Neudeutung „Corsage“ und Ruth Maders Klosterschulschocker „Serviam“ waren längst abgeschlossen, als das Gemunkel über Teichtmeisters pädophiles Konsumverhalten begann. Die Debatte über die Frage, wie sehr man in Verruf stehende Akteure noch in die Promotion-Arbeit einbeziehen und auf Premierenfeiern einladen muss (wie im Fall von „Corsage“ geschehen), ist jedenfalls zu führen. Aber bei Licht betrachtet ist dies allenfalls ein Nebenschauplatz des Trauerspiels um einen gefallenen Künstler.
Am Burgtheater dagegen blieb Teichtmeister nicht nur angestellt, sondern weiterhin und sehrt entschieden auch im Scheinwerferlicht der allabendlichen Darbietungen des Hauses. Im Herbst 2022 vertraute ihm Burgtheater-Prinzipal Martin Kusej in seiner Inszenierung des Kehlmann-Dramas „Nebenan“ sogar noch die Hauptrolle eines fiktiven Filmschauspielers namens „Florian“ an, der über seine Egomanie und seine pornografischen Chats zu stolpern droht. Warum besetzte Kušej, dem das äußerst reichhaltige Ensemble seiner Institution unzählige Darsteller-Alternativen geboten hätte, ausgerechnet diesen Part mit dem seit Monaten im finsteren Zentrum der Gerüchteküche sitzenden Teichtmeister? Hier war entweder vollständige Gedankenlosigkeit am Werk – oder blanker Zynismus.
Dennoch sitzen weiterhin keineswegs die Führungspersönlichkeiten des Burgtheaters in den Fernsehdiskussionsrunden, um sich für solche Irritationen zu rechtfertigen, sondern weitestgehend unbescholtene Regiekräfte wie Marie Kreutzer und Stefan Ruzowitzky; als ginge es im Fall des Florian Teichtmeister in allererster Linie um Versäumnisse der Filmbranche. Hier wird im öffentlichen Diskurs ganz offenkundig mit zweierlei Maß gemessen.
Einen schönen Donnerstag wünscht Ihnen
Stefan Grissemann