NS-Schreckenszeit als Musical: „Sehr dunkel auf der Erde“
Musical ist Schwerarbeit. Markus Olzinger schleppt das Pianino in den Orchestergraben, und Elisabeth Sikora wuchtet eine Aluminiumkiste auf die Bühne. Für den Freitag ist im Gmundner Stadttheater die Weltpremiere des Musicals „Briefe von Ruth“ geplant. Die Absenderin heißt mit vollem Namen Ruth Maier, eine junge Wienerin, die ein Tagebuch des nationalsozialistischen Schreckensalltags hinterließ und 1942 mit 22 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Olzinger und Sikora haben 2015 das Festival „Musical-Frühling in Gmunden“ gegründet. „Briefe von Ruth“ ist ihre achte Inszenierung.
„Es gab nie ein Ereignis in der Geschichte von solchem Elend und Unglück, solcher Erniedrigung, Scham und Bestialität“, notierte Ruth Maier am 9. Oktober 1938: „Dass wir trotz all dem nicht den Gashahn aufdrehen, in die Donau springen.“ In der Woche darauf der Eintrag: „‚Sind wir Vieh, Tiere? Sind wir Menschen?‘ – ‚Ja‘, sagt Herr Goebbels, ‚wie die Flöhe auch Tiere sind.‘ Im Jahre 1938 war es sehr dunkel auf der Erde.“ Kann man aus solchen Passagen ein Musical machen? Darf sich die Flitter-Glitter-Gattung mit dem Holocaust auseinandersetzen?
Elisabeth Sikora sagt: „Uns ist es wichtig, Ruth eine Stimme zu geben in Form eines musikalischen Theaters, mittels einer einfühlsamen Komposition. In ‚Briefe von Ruth‘ finden sich keine Tanzeinlagen und Pausen für Applaus.“ Mit dem Wort „Mitschunkeln“ kann man Olzinger jagen: „Ich brauche keine Ohrwürmer, keine Mitklatschhits. Es sind in ‚Briefe von Ruth‘ wunderschöne, durchkomponierte Melodien zu hören, keine Pop-Schlager.“
Ruth Maiers kurzes Leben lässt sich mithilfe von Urkunden, Krankenblättern und einem Fotoalbum aus dem Nachlass erstaunlich lückenlos rekonstruieren: Geboren wurde sie als erste von zwei Töchtern eines Beamten der österreichischen Postgewerkschaft. Sie wächst auf in einem Elternhaus, in dem Religion Nebensache ist. Kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wird die Familie gezwungen, aus ihrem Stadtapartment in der Währinger Hockegasse auszuziehen und ein Zimmer in einer Wohnung im 2. Bezirk zu mieten. Ende Jänner 1939 flüchtet die 18-jährige Gymnasiastin aus Wien in die rund 20 Kilometer von Oslo entfernte Kleinstadt Lillestrøm, wo ein Bekannter ihres 1933 verstorbenen Vaters sich bereit erklärt hatte, ihr Bürge zu sein. In Norwegen verdient sie Geld mit dem Dekorieren von Souvenirs, sie nimmt Zeichenunterricht an einer Kunst- und Handwerksschule, verdingt sich als Modell eines Bildhauers und eines Malers.
Musical und Massenmord?
Die frühesten Tagebucheinträge, die von Ruth Maier erhalten sind, bekunden den sorglosen Alltag eines Wiener Schulmädchens. Die Zwölfjährige schreibt 1933: „Heute haben wir die französische Schularbeit zurückgekriegt. Ich hab 2. Ich bin mit Käthe und Fritzi gut.“ Gemeinsam mit Freunden unternimmt Ruth Ausflüge in den Wald, sie berichtet von ihren Klavierstunden, von der Zeugnisverteilung: „Die Mama war sehr zufrieden, außer Betragen 2.“ Bald umkreist Maier den unauflösbaren Widerspruch einer Zeit zwischen Aufruhr und Auflösung. Notizen vom Verliebtsein wechseln sich ab mit Einträgen vom Töten und Sterben. 12. Februar 1936: „Ich bin sehr in die Lizzy verliebt.“ 22. Februar 1936: „In die Lizzy bin ich nicht mehr so verliebt.“ Mit der ihr eigenen Unmissverständlichkeit notiert Ruth Maier Ende Jänner 1937: „Ich muss immer daran denken: Man kann sagen: Ich werde aufgehängt. Ich werde aufgehängt werden. Aber man kann nicht sagen: Ich wurde aufgehängt.“ Eintrag vom 3. Oktober 1937: „Die Zeit geht schnell. Man kann sie nicht parken. Wir sterben, und nach uns wird nichts sein als Mist.“
Der Holocaust kommt am 26. November 1942 nach Norwegen. Im Morgengrauen werden 532 Juden mit dem Frachtschiff „Donau“ vom Osloer Hafen aus nach Stettin deportiert und in Güterwaggons weiter nach Auschwitz verschleppt. Ruth Maier wird gleich nach ihrer Ankunft, am 1. Dezember, in einer Gaskammer des Lagers ermordet, ihre Leiche im Freien verbrannt. Die sechs Geschwister ihres Vaters und deren Familien fallen fast vollzählig dem Holocaust zum Opfer.
„Briefe von Ruth“ basiert auf dem Libretto des norwegischen Autors und Regisseurs Aksel-Otto Bull und der Musik des aus Trondheim stammenden Komponisten Gisle Kverndokk. In Norwegen sind Maiers Tagebücher und Briefe Schullektüre. In ihrer Geburtsstadt erfährt sie nur langsam so etwas wie historische Gerechtigkeit.
Sechs der insgesamt acht erhaltenen Journale, Notizbücher verschiedenen Formats und Umfangs, wurden 1995 im Nachlass der norwegischen Lyrikerin Gunvor Hofmo (1921–1995) entdeckt, mit der Maier ein inniges, nicht immer einfaches Liebesverhältnis verband.
Auf eines ihrer nachgelassenen Tagebücher schrieb Maier den Vermerk, es dürfe nicht verbrannt werden.
Noch 2017 stellte der Wiener Historiker Winfried Garscha in einer wegweisenden Forschungsarbeit fest: „Kaum jemand in Österreich kennt die aus Wien stammende Ruth Maier, deren Tagebücher und Briefe aufgrund einer norwegischen Initiative seit 2014 Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes sind – nur sieben Jahre, nachdem der norwegische Schriftsteller Jan Erik Vold sie erstmals publiziert hatte.“ Seit September 2021 ist in der Wiener Leopoldstadt ein Parkstück zwischen dem Wettsteinpark und dem Hermann-Kienzl-Park nach Ruth Maier benannt, gegenüber ihrer letzten Wohnadresse, Obere Donaustraße 43. „Es wartet doch so viel auf mich …“ ist ein im November 2020 veröffentlichter Band aus dem Wiener Mandelbaum Verlag überschrieben, der die Tagebücher und Briefe Maiers von 1933 bis 1942 versammelt. Ein Buch zum Immer-wieder-Lesen, zum Griffbereithalten in der Bibliothek. Spät hat Ruth Maier Aufnahme in die „Pionierinnengalerie“ der Stadt Wien gefunden, die als kleine Wanderschau tourt. Historiker Garscha hat daneben die Ausstellung „Das kurze Leben der Ruth Maier“ kuratiert, die nach Stationen in Wien, New York und Oslo noch bis Ende April im Foyer des Gmundner Stadttheaters zu sehen ist.
Musical und Massenmord, ist das nicht ein Spagat, der schon beim Zuschauen wehtut? „Über Anne Frank gibt es ein Musical“, sagt Markus Olzinger: „In Gmunden inszenieren wir ohnehin Stücke weit weg vom Mainstream“: „Doktor Schiwago“ und „Vincent van Gogh“ statt „Mamma Mia!“ und „Evita“. Publikumshits wie „Der König der Löwen“ und „Cats“ hätten mit „Briefe an Ruth“ herzlich wenig zu tun. „Das ist das leichte Musical-Genre“, ergänzt Elisabeth Sikora: „Vielleicht sind wir das schwere Musical-Genre.“
Das Thema und die Musik ihrer Arbeit, sagt Olzinger, sollen natürlich viele Menschen erreichen, dem Publikum ans Herz gehen. „Aber nicht manipulativ durch ‚Memory‘-Hymnen, Tanzschritte und grelles Scheinwerferlicht. Das wäre ganz falsch.“ Die schweren Themen seien in all ihrer Härte zu zeigen, nicht als Musical im Kitschformat.
In Ruth Maier dürften die Musicalmacher jedenfalls eine heimliche Komplizin gefunden haben. „Musik macht die Seele zu einem gefühligen Leib, jeder Ton berührt sie“, zitiert sie im April 1941 aus den Briefen Bettina von Arnims: „Musik wirkt sinnlich auf die Seele. Wer nicht so erregt ist im Spiel wie in der Komposition, der bringt nichts Gescheutes hervor.“