Die letzten Pfingsten in Frieden

100 Jahre Erster Weltkrieg: Die letzten Pfingsten in Frieden

100 Jahre Erster Weltkrieg. Der Countdown zum Krieg: 25.-31. Mai 1914

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N ach dem Durchzug einer Kaltfront verspricht der Wetterbericht ein herrliches Pfingstwochenende. Das freut besonders die Firmlinge, die in Wien von ihren Paten traditionsgemäß in den Prater ausgeführt werden – in finanziell bessergestellten Familien mit dem Fiaker. Das Satireblatt „Kikeriki“ schaut in die Zukunft und lässt seinen Zeichner festhalten, wie die Firmlinge vielleicht künftig in den Prater befördert werden: mit dem Aeroplan. Der ist vorderhand allerdings den Flugpionieren des Militärs vorbehalten.

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Im Hotel „Zum weißen Lamm“ in der Wiener Zirkusgasse setzt ein Liebespaar seinem Leben auf jene Art ein Ende, die genau 25 Jahre zuvor Kronprinz Rudolf und seine Geliebte Mary Vetsera gewählt hatten: Zuerst erschießt der junge Mann das Mädchen, das später noch mit letzten Lebenszeichen im Bett liegend aufgefunden wird; dann schießt er sich mit einem Revolver in die linke Schläfe und ist sofort tot. In einem Abschiedsbrief nennt das Paar die Weigerung der Eltern, ihrer Verheiratung zuzustimmen, als Grund für den Selbstmord. Die junge Frau wird ins Allgemeine Krankenhaus eingeliefert, stirbt aber noch in derselben Nacht.

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Die christlichsoziale „Reichspost“ ist beunruhigt. In Kroatien und neuerdings auch in Bosnien komme es immer wieder zu unfreundlichen Akten gegenüber Deutschsprachigen und zu einem Boykott deutscher Geschäfte. Schuld daran sei die „von freisinniger Seite“ vertretene nationalistische Idee, die darin gipfle, „dass Kroaten, Serben und Slowenen eine Nation seien, welche gemeinsam gegen ihre Feinde antreten müsse“.

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Probleme mit angeblichen Heiratsversprechen hat der italienische Startenor Enrico Caruso, der eben an der New Yorker Metropolitan-Oper wahre Triumphe feiert. Vor Gericht in Manhattan erscheint eine Dame namens Mildred Meffert , die angibt, sie habe ein Jahr lang mit Mister Caruso zusammengelebt – und dieser habe ihr in Anwesenheit von Freunden mehrfach die Ehe versprochen. Im Vorjahr habe er sie dann schmählich verlassen und sich geweigert, ihr eine Abfertigung zu bezahlen. Miss Meffert verlangt 500.000 Dollar Schadenersatz für die erlittene Kränkung.

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In Petersburg bringen die rechten Parteien in der Duma eine Gesetzesvorlage durch, wonach Juden künftig von der Wehrpflicht ausgeschlossen sind, zum Ausgleich aber eine hohe Ersatzsteuer bezahlen müssen.

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In Budapest haben sich Regierungsvertreter Österreichs und Ungarns auf den Bau von vier „Dreadnoughts“, also Großschlachtschiffen, sowie drei Kreuzern und sechs Torpedobooten geeinigt. Die Kosten dafür belaufen sich bis zum geplanten Fertigstellungstermin im Jahr 1918 auf 427 Millionen Kronen – das ist das Doppelte des durchschnittlichen Heeresbudgets eines Jahres. Der Finanzminister habe dem Wunsch der Marine diesmal kaum Widerstand entgegengesetzt, berichten die Zeitungen erstaunt. Im führenden Blatt der Monarchie, der „Neuen Freien Presse“, bekommt der Minister dafür dickes Lob: „Er war sofort bereit, an der Schöpfung einer so gewaltigen, meerbeherrschenden und die Monarchie in die Reihe der Seemächte rückenden Marine mitzuwirken.“ Nur die „Arbeiter Zeitung“ mäkelt an dem Beschluss herum: „Müssen wir denn die Großmacht spielen zum Preis von Armut und Hunger?“

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Colonel Edward House, ein Abgesandter des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, bereist seit einigen Wochen Europa, um zu erkunden, wie sich ein drohender Konflikt noch verhindern ließe. Am 29. Mai 1914 berichtet er in einer Depesche an das Weiße Haus: „Die Situation ist außerordentlich. Es ist völlig verrückt gewordener Militarismus. Falls nicht irgendjemand eine Art von Verständigung zustande bringt, ist mit einer schrecklichen Katastrophe zu rechnen. Aber niemand in Europa kann dies tun, es herrscht zu viel Hass und zu viel Eifersucht.“

Noch neun Wochen bis zum Krieg.

Lesen Sie außerdem:

„Ein Mann will den Krieg“: Der Countdown zum Krieg, Teil XVIII: 11. - 17. Mai 1914

„Glückssuche in Übersee“: Der Countdown zum Krieg, Teil XVII: 4. - 11. Mai 1914

„Der Thronfolger ist bereit“: Der Countdown zum Krieg, Teil XVII: 27. April - 4. Mai 1914

„Sorge um den Kaiser“: Der Countdown zum Krieg, Teil XVI: 20.-26. April 1914

„Society-Skandal in Wien“: Der Countdown zum Krieg, Teil XV: 13.-19. April 1914

„Drama in der Stadtbahn“: Der Countdown zum Krieg, Teil XIV: 6.-12. April 1914

„April! April!“: Der Countdown zum Krieg, Teil XIII: 30. März - 5. April 1914

„Der letzte Frühling“: Der Countdown zum Krieg, Teil XII: 23. - 30. März 1914

„Tod in Venedig“: Der Countdown zum Krieg, Teil XI: 16. - 22. März 1914

„Über den Wolken“: Der Countdown zum Krieg, Teil X: 9. – 15. März 1914

„Der weiße Tod“: Der Countdown zum Krieg, Teil IX: 2. - 8. März

„Der Tanz auf dem Vulkan“: Der Countdown zum Krieg, Teil VIII: 23. Februar - 1. März

„Ein Ball bei Hofe”: Der Countdown zum Krieg, Teil VII: 16.-22. Februar 1914

„Über den Dächern von Wien”: Der Countdown zum Krieg, Teil VI: 9.-15. Februar 1914

„Wiener Bürger gegen den Tango”: Der Countdown zum Krieg, Teil V: 2.-8. Februar 1914

„Plötzlich verstorben”: Der Countdown zum Krieg, Teil IV: 1. Februar 1914

In Paris wird getafelt: Der Countdown zum Krieg, Teil III: 19. bis 25. Jänner 1914

Der Kaiser fährt aus: Der Countdown zum Krieg, Teil II: 12. bis 18. Jänner 1914

„1914 wird ein schönes Jahr sein”: Der Countdown zum Krieg, Teil I: 1. bis 12. Jänner 1914

Sarajevo revisited: 100 Jahre Erster Weltkrieg

Herbert Lackner

war von 1998 bis zum Februar 2015 Chefredakteur von profil. Heute schreibt der Autor mehrer Bücher als freier Autor für verschiedene Medien, darunter profil.