Eisenstadts Judenviertel brennt

100 Jahre Erster Weltkrieg: Eisenstadts Judenviertel brennt

100 Jahre Erster Weltkrieg. Der Countdown zum Krieg: 8.–14. Juni 1914

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Aus ungeklärter Ursache brach am Montag, vier Uhr nachmittags, in einem Haus im Judenviertel von Eisenstadt ein Brand aus, der auf die nebenstehenden Häuser übergriff. Nach drei Stunden hat die Feuerwehr die Lage im Griff, verletzt wurde niemand, aber 18 Häuser sind niedergebrannt.
Das Ghetto von Eisenstadt entstand im 17. Jahrhundert. Fürst Esterházy hatte damals jüdische Siedler aus Deutschland eingeladen und ihnen neben seinem Schloss ein Wohngebiet zugewiesen. 1679 kamen viele der aus ihrem Ghetto in der Wiener Leopoldstadt vertriebenen Juden dazu.

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In der Industriegemeinde Kottingbrunn südlich von Wien ist ein Textilarbeiter an schwarzen Blattern erkrankt. Er arbeitete an einer Maschine, in der aus Indien in Ballen gelieferte Baumwolle zur weiteren Verarbeitung zerteilt wird. Die schwarzen Blattern, die gefährlichste Variante der Pocken, sind auch über Kleidungsstücke und Rohwaren übertragbar. Die meisten Erkrankten sterben nach schweren Blutungen der Schleimhäute schon in den ersten 48 Stunden. Der Arbeiter hatte in der Fabrik plötzlich an schwerem Brechdurchfall gelitten und war nach Hause gebracht worden. Der von der Betriebskrankenkassa bezahlte Arzt wurde alarmiert, kam aber erst zwei Tage später zu dem Kranken, weil er aus Kostengründen immer mehrere Besuche zusammenkommen ließ. Die Schulen in Kottingbrunn, Günselsdorf und Schönau wurden gesperrt, in der Textilfabrik wird aber weitergearbeitet.

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Ein außergewöhnlicher Artikel erscheint in der Mittwoch-Ausgabe der „Arbeiter Zeitung“, was schon der Titel verheißt: „Ein anständiger christlichsozialer Hausherr“. Es handelt sich um einen Nachruf auf den verstorbenen Gemeinderat und Hausbesitzer Karl Hörmann aus Wien-Landstraße. „Wir kommen ja nicht häufig in die Lage, einen Christlichsozialen zu loben“, entschuldigt sich das Parteiblatt quasi bei seinen Lesern, aber Hörmann habe sich als Hausherr ausgezeichnet: Er habe „keinen Zinswucher betrieben, erschwingliche und angemessene Mieten verlangt und ist für Reparaturen selbst aufgekommen. Sicher hat auch Herr Hörmann bei seinen Häusern verdient, denn zum Vergnügen baut keiner Häuser. Aber er begnügte sich mit einem bürgerlichen Gewinn und gab mit seinen niedrigen Mieten einen guten Maßstab für den gierigen Zinswucher so vieler anderer Hausherren“, lobt die „Arbeiter Zeitung“.

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Ebenfalls in Wien-Landstraße, in der Mohsgasse 21, wird die 66-jährige Baronin Johanna Murmann von Marchfeld wegen Spionage für Russland verhaftet. Man hat bei einer Hausdurchsuchung so „gravierendes Material“ gefunden, dass sie sofort festgenommen wurde. Ihren Sohn, einen ehemaligen Offizier, hatte das Gericht schon 1912 wegen Spionage für Russland zu vier Jahren Haft verurteilt. Die Mutter setzte offenbar die Tätigkeit des Sohnes fort.

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Der deutsche Kaiser Wilhelm II. besucht Erzherzog Franz Ferdinand auf dessen Schloss Konopischt in Böhmen. Der 55-jährige Monarch und der 49-jährige Thronfolger verstehen sich ausgezeichnet – nicht zuletzt deshalb, weil der deutsche Kaiser im Gegensatz zum Wiener Hof deutlich zeigt, dass ihm die nicht ganz ebenbürtige Herkunft von Franz Ferdinands Frau Sophie egal ist. Wilhelm trägt bei seiner Ankunft ein selbst entworfenes Jagdkostüm: grüne Jacke mit Messingknöpfen, glänzende schwarze Stiefel und um den Hals den Hubertusorden – eine Reverenz an den glühenden Jäger Franz Ferdinand. Dieser hat die Uniform des Zehnten Preußischen Ulanenregiments angelegt.

Franz Ferdinand beklagt sich über den ungarischen Ministerpräsidenten István Graf Tisza, der die rumänische Minderheit unterdrücke und im Ungarn zugehörigen Kroatien die slawische Mehrheitsbevölkerung kujoniere. Das bringe Rumänen wie Slawen gegen die Monarchie auf. Wilhelm verspricht diplomatische Schützenhilfe.

Man vereinbart, im Herbst in Konopischt zu jagen. Dann sei vielleicht auch der englische König da, freut sich Franz Ferdinand auf ein blendend besetztes Jagdwochenende.

Noch sieben Wochen bis zum Krieg.

Lesen Sie außerdem:

„ Ein letzter Tanz“: Der Countdown zum Krieg, Teil XXI: 1.-7. Juni 1914

„Die letzten Pfingsten in Frieden“: Der Countdown zum Krieg, Teil XX: 25. - 31. Mai 1914

„Ein Mann will den Krieg“: Der Countdown zum Krieg, Teil XVIII: 11. - 17. Mai 1914

„Glückssuche in Übersee“: Der Countdown zum Krieg, Teil XVII: 4. - 11. Mai 1914

„Der Thronfolger ist bereit“: Der Countdown zum Krieg, Teil XVII: 27. April - 4. Mai 1914

„Sorge um den Kaiser“: Der Countdown zum Krieg, Teil XVI: 20.-26. April 1914

„Society-Skandal in Wien“: Der Countdown zum Krieg, Teil XV: 13.-19. April 1914

„Drama in der Stadtbahn“: Der Countdown zum Krieg, Teil XIV: 6.-12. April 1914

„April! April!“: Der Countdown zum Krieg, Teil XIII: 30. März - 5. April 1914

„Der letzte Frühling“: Der Countdown zum Krieg, Teil XII: 23. - 30. März 1914

„Tod in Venedig“: Der Countdown zum Krieg, Teil XI: 16. - 22. März 1914

„Über den Wolken“: Der Countdown zum Krieg, Teil X: 9. – 15. März 1914

„Der weiße Tod“: Der Countdown zum Krieg, Teil IX: 2. - 8. März

„Der Tanz auf dem Vulkan“: Der Countdown zum Krieg, Teil VIII: 23. Februar - 1. März

„Ein Ball bei Hofe”: Der Countdown zum Krieg, Teil VII: 16.-22. Februar 1914

„Über den Dächern von Wien”: Der Countdown zum Krieg, Teil VI: 9.-15. Februar 1914

„Wiener Bürger gegen den Tango”: Der Countdown zum Krieg, Teil V: 2.-8. Februar 1914

„Plötzlich verstorben”: Der Countdown zum Krieg, Teil IV: 1. Februar 1914

In Paris wird getafelt: Der Countdown zum Krieg, Teil III: 19. bis 25. Jänner 1914

Der Kaiser fährt aus: Der Countdown zum Krieg, Teil II: 12. bis 18. Jänner 1914

„1914 wird ein schönes Jahr sein”: Der Countdown zum Krieg, Teil I: 1. bis 12. Jänner 1914

Sarajevo revisited: 100 Jahre Erster Weltkrieg

Herbert Lackner

war von 1998 bis zum Februar 2015 Chefredakteur von profil. Heute schreibt der Autor mehrer Bücher als freier Autor für verschiedene Medien, darunter profil.