1350 Notrufe gehen in der Leitstelle täglich ein, in den Nachtstunden sind es meist weniger.
Gesundheit

1350 Notrufe täglich: Wie die Wiener Rettung über Leben und Tod entscheidet

In der Zentrale der Berufsrettung Wien müssen Mitarbeiter im Sekundentakt einschätzen, ob tatsächliche Lebensgefahr besteht - oder ein Schmerzmittel reicht. profil hat den Sanitätern bei der Arbeit zugehört.

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„Alles ist voller Blut! Alles ist voller Blut!“ Der ältere Mann am Telefon keucht diesen Satz wieder und wieder. Und sagt: Seine Beine bluten stark, er sei im Badezimmer ausgerutscht und alleine Zuhause. Offenbar hat er eine Schnittwunde. Seinen Worten ist die Angst anzumerken. „Die Einsatzkräfte sind unterwegs“, teilt ihm Sanitäter Merlin Burger mit und fügt an: „Ich sage Ihnen in der Zwischenzeit, was Sie tun sollen. Können Sie sich ein Handtuch holen?“ Mit schmerzverzerrter Stimme sagt der Mann ja. Burger leitet ihn an, dass er so fest es geht auf die Wunde pressen soll. Die Blutung versiegt wenig später, berichtet der Mann. „Das haben Sie gut gemacht“, sagt Burger. „Die Rettung ist bald bei Ihnen.“

Der Verletzte sitzt in seiner Wohnung im Südwesten Wiens, Burger in der Innenstadt – in der Notrufzentrale der Berufsrettung Wien in der Radetzkystraße im dritten Bezirk. Dort läutet das Telefon, wenn man in der Hauptstadt die Notrufnummer 144 wählt. Die Disponenten wie Burger entscheiden mithilfe einer Software, welche Dringlichkeit der Fall besitzt, entsenden Sanitäter und, wenn es notwendig ist, auch einen Notarzt. 1350 Anrufe gehen im Schnitt täglich ein. Es ist die Herzkammer des Wiener Rettungsdienstes.

„Berufsrettung Wien, Notruf. Wo genau ist der Notfallort?“

Merlin Burger

Die Grußformel des Notrufs

Über die vielen Krisenherde im Gesundheitssystem wird hier nicht diskutiert. Zu nah ist der nächste Notfall. Und dennoch kommt der Notrufzentrale eine wichtige Funktion zu, die überlasteten Spitäler zu entlasten. Denn in Österreich landen zu viele Menschen im Spital, die auch anderswo behandelt werden können. Nicht hinter allen Anrufen stecken so dramatische Fälle wie jener des Mannes im Badezimmer.

Einige Anrufe später: Ein Mann klagt in starkem Wiener Dialekt über Kreuzschmerzen. „Wissen'S, ich bräuchte einfach eine Spritze. Ich will eh nichts ins Spital“, sagt er. Nachdem sich Burger vergewissert hat, dass es sich um keine reißenden Schmerzen handelt – dann könnten akute arterielle Verletzungen der Grund sein – vermittelt er den Mann an die Gesundheitsberatung, besser bekannt als 1450. Die Rettung ist in diesem Fall nicht zuständig, der Mann kein Fall für das Krankenhaus. „Wir verstehen, dass sich viele Anruferinnen und Anrufer in einer Ausnahmesituation befinden“, sagt Patrick Glaninger, Leiter der Wiener Rettungsleitstelle. „Aber natürlich würden wir uns wünschen, dass uns die Menschen nur in lebensbedrohlichen Fällen alarmieren.“ Neben der Gesundheitsberatung gibt es als Alternative zum Besuch beim Hausarzt den Ärztenotdienst, der unter 141 zu erreichen ist.

Schüttelfrost und Panik

Die Notrufzentrale ist an diesem heißen Julitag abgedunkelt, die Klimaanlage kühlt auf Hochtouren. Burger sitzt an einem der 15 Arbeitsplätze. Vor ihm leuchten vier Bildschirme, auf einem ist eine bunte Liste zu sehen, die den Standort der Einsatzfahrzeuge angibt und ob es gerade zur Verfügung steht. Burger hat wie alle seine Kollegen beim Notruf zuvor als Sanitäter gearbeitet, sonst dürften sie den Job nicht machen. Auf dem Monitor daneben ist ein leere Formularmaske geöffnet, die Burger zu befüllen beginnt, sobald er den Hörer abnimmt.

Lang dauert es nicht. Nach einer knappen Minute ist es so weit, der 34-Jährige sagt den Satz, mit dem er jedes dienstliche Telefonat beginnt. „Berufsrettung Wien, Notruf. Wo genau ist der Notfallort?“ Die Frau am Telefon gibt die Adresse durch und hebt bereits an, ihre Situation zu schildern. Doch Burger bremst sie, er fragt sie ein zweites Mal nach der Anschrift, danach nach einer Rückrufnummer. „Wir können auf Knopfdruck zehn Sanitäter, einen Notarzt und einen Hubschrauber in Bewegung setzen, aber wenn wir nicht wissen, wohin, bringt das nichts“, wird er danach sagen. Wie dramatisch die Folgen sein können, merkte man im Mai. Der „Standard“ berichtete über einen Notfall, bei dem die Rettung zunächst zur falschen Adresse fuhr. Der Mann verstarb.

Hosentaschenanruf

Burger trägt die Daten ein. Erst danach geht es weiter: „Sagen Sie mir genau, was passiert ist.“ Die Anruferin – wohnhaft in einem Einfamilienhaus am Stadtrand – erzählt etwas panisch, dass ihr Mann hohes Fieber habe. Wenige Tage zuvor sei ihm eine bakterielle Infektion im Krankenhaus diagnostiziert worden, sein Befinden verschlechtere sich „Mein Mann hat hohes Fieber und Schüttelfrost. Er kommt kaum aus dem Bett“, sagt sie. Burger nimmt auch diese Angaben ins Protokoll auf, das Formular vor ihm zeigt jene Fragen an, die er stellen solle. Er erkundigt sich, ob der Mann bei Bewusstsein und ansprechbar sei, Atemprobleme habe oder Blut erbreche. Die Frau bejaht die ersten beiden Fragen, verneint die dritte und die vierte. Sie wird ruhiger. Burger rät ihr, dass sie den Mann in der für ihn angenehmsten Position belassen sollte. „Haben Sie ein wenig Geduld. Ein Einsatzfahrzeug ist am Weg“, sagt er am Schluss. Nur eine Minute greift Burger wieder zum Hörer. Der nächste Anruf.

Er wird in der nächsten Viertelstunde noch mit einer Mutter sprechen, deren Sohn sich andauernd übergibt, mit einem Kellner, dessen Kollegin sich mit einem Glas eine blutende Wunde am Kopf zugezogen hat und einer Krankenpflegerin in einem Seniorenheim, wo ein Bewohner die Nahrungsaufnahme verweigert. „Ich muss mich jedes Mal auf eine neue Situation einstellen“, sagt Burger. Dazwischen läutet es, ohne dass jemand etwas sagt. Um sicherzugehen, ruft er zwei Mal zurück. „Hosentaschenanruf“, sagt er dann.

Ist man das Pensum nicht gewohnt, schwirrt einem nach wenigen Minuten der Kopf. Denn es sitzen zehn weitere Disponenten im Raum. Wortfetzen fliegen umher. „Sie sprechen mit der Rettung“, wiederholt einer der Kollegen mit zunehmender Lautstärke, „Können Sie das Köpfchen des Babys schon sehen?“, fragt ein anderer.

Von der Krise im Gesundheitswesen bekomme man bei der Rettung nicht viel mit, sagt der Leiter der Wiener Leitstelle, Patrick Glaninger.

Fiktive Krisen

In einem ruhigeren Nebenraum erzählt der Leiter Glaninger, wie stolz er auf die Arbeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist. Das Hightech-Equipment, das mit dem Neubau der Leitstelle 2008 Einzug gehalten hat, mache die Arbeit wesentlich einfacher. 17 Menschen sitzen untertags permanent am Hörer, erzählt der 41-Jährige, in den ruhigeren Nachtstunden sind es 14, zum einen Teil in der Radetzkystraße, zum anderen in der baugleichen „Redundanz“ in Wien-Hernals. Und obwohl die Schichten zwölfeinhalb Stunden lang sind, dauert der Dienst am Notruf nie länger als vier, danach wechseln sie zu anderen Aufgaben. „Eine durchgehend längere Zeit am Notruf wäre zu anstrengend“, sagt Glaninger.

Über die Krise im Gesundheitswesen will er mangels Zuständigkeit nicht viel sagen. Die Personalnot, die die Krankenhäuser zuletzt lähmten, sei bei der Rettung kein Thema, meint Glaninger. Von überfüllten Ambulanzen würde man nichts mitbekommen. „Unsere Zusammenarbeit mit den Kliniken ist sehr gut“, sagt er. „Der Großteil der Patienten kommt nicht mit uns in die Ambulanz, sondern eigenständig. Darauf haben wir keinen Einfluss.“

Die Berufsrettung Wien ist ein Unikum: Im Rest Österreichs kümmern sich private Hilfsorganisationen – allen voran Rotes Kreuz und Samariterbund – um das Rettungswesen, in Wien ist die Berufsrettung, die Magistratsabteilung 70, übergeordnet. Das helfe, Arbeitskräfte zu finden und zu halten, sagt Glaninger. Die Bezahlung sei fair, die Ausbildung angesehen.

Baby wurde im Beisein von profil in der Notrufzentrale keines geboren. Die Frage, ob das Köpfchen schon sichtbar sei, wird standardmäßig gefragt, wenn es um eine Frau in den Wehen geht. Doch sollte es einmal so weit sein, hätte die Software Ratschläge parat und leitet an, wie man mit einem Schuhband ordnungsgemäß die Nabelschnur abschnürt.

Bevor das Bild allerdings vor Augen hat, läutet das Telefon schon wieder. Ein Mann schafft es nicht, seinen pflegebedürftigen Vater ins Bett zu hieven. „Ich kriege das nicht hin. Er ist nicht leicht.“

Moritz Ablinger

Moritz Ablinger

war bis April 2024 Redakteur im Österreich-Ressort. Schreibt gerne über Abgründe, spielt gerne Schach und schaut gerne Fußball. Davor beim ballesterer.