14-jährige Terrorverdächtige: „Feinde sind alle, die den Islam hassen“
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Ein junger Mann steht vor einem Panzer. Er fleht um sein Leben, Tränen strömen über sein Gesicht, er betet zu „Allah“ und ahnt, dass seine letzten Lebensminuten angebrochen sind. Im Hintergrund sind laute Stimmen zu hören. Sie schreien, sie lachen, sie jubeln. Dann fährt das tonnenschwere Kampffahrzeug los, steuert direkt auf ihn zu und überrollt ihn.
Minutenlang dauert das brutale Video und ist eines von mehr als 4000 Gewalt- und Hinrichtungsvideos der Terrororganisation „Islamischer Staat“, die L. auf ihrem Handy gespeichert hat. Ihr Bildschirmhintergrund zeigt die damals 13-Jährige mit einem Niqab, einem Gesichtsschleier. Daneben hängt ein Foto des Wiener Terrorattentäters Kujtim F.
Das Smartphone ist L.s Tor zu einer düsteren Welt. Einer Welt, in der die Scharia über allem steht und zu der „Kuffar“ keinen Zutritt haben. So nennt L. die „Ungläubigen“. In ihren Augen sind sie die Feinde, die den Islam hassen oder die Religion nicht so leben, wie sie es für richtig hält. Das erste Mal habe sie den Begriff im islamischen Kulturzentrum in Graz gehört, „aber es wurde nicht viel darüber gesprochen“, sagt die junge Muslima, eine gebürtige Montenegrinerin, später zur Kriminalpolizei. profil liegt der Akt vor. L. wurde im Mai festgenommen, die U-Haft wurde gerade verlängert. Ihre Geschichte ist kein Einzelfall, sondern steht exemplarisch für wieder zunehmende Rekrutierungsversuche des IS.
Wie viele Jugendliche verbringt L. die meiste Zeit mit ihrem Handy. Dort taucht sie mit jedem Klick, jedem Scrollen tiefer in diese andere Welt ein, wo sie nach und nach radikalisiert wird. Vor einem Jahr, im Frühling 2023, lernt sie über TikTok das Mädchen W. kennen. Beide teilen dieselben Ansichten über den Islam, zumindest basierend auf dem, was sie aus den Chatgruppen und den Propagandavideos der Terrormiliz zu wissen glauben. Und darüber, was mit denjenigen passieren soll, die nicht nach deren Regeln leben.
Anleitung zum Massenmord
Gemeinsam mit W. und mindestens zwei weiteren Personen, die sich auf Telegram, Threema und TikTok „Osman“ und „Abu Luan“ nennen, soll L. im März ein Attentat und mehrere Bombenanschläge in Graz geplant haben – für die Genannten gilt die Unschuldsvermutung. Den entscheidenden Hinweis haben deutsche Sicherheitsbehörden geliefert. Die Beamten haben Chats auf Telegram gefunden, die auch profil vorliegen, in denen L. von ihrem vermeintlichen Plan erzählt: Gemeinsam mit W. soll sie vorgehabt haben, am Jakominiplatz mit einem Messer „Ungläubige“ zu töten sowie mehrere Bomben zu bauen und sie in einer Kirche, einer Polizeistation und in einem Supermarkt hochzujagen. Danach wollten die Mädchen das Land verlassen. W. soll L. von einer 21-jährigen Freundin erzählt haben, die einen Führerschein besitzt und ihnen bei ihrer „hijra“, ihrer Flucht, helfen könne. Offenbar sollte sie die Mädchen in ein „Kampfgebiet“ bringen, damit sie sich dort der Terrororganisation anschließen. Doch dazu kommt es nicht.
Bevor die Mädchen den mutmaßlichen Plan umsetzen können, wird W. am 30. März in Deutschland verhaftet. Die Beamten brauchen nicht lange, um durch die Auswertung ihrer Chats eine Verbindung zu einer „österreichischen Bekannten“ herzustellen – und damit zu L. Als sie tagelang nichts von ihrer Freundin hört, wird L. panisch. Sie löscht ihr Telegram-Konto, soll den Plan aber weiter verfolgt haben und das „as fast as possible“ (Anm.: so schnell wie möglich). Das steht in einer Nachricht, die L. an Osman am 12. April über den Nachrichtendienst Threema verschickt. Den Kontakt von Osman habe L. von Abu Luan, einem TikTok-User, der mit dem Mädchen in Kontakt gewesen sein soll. „If I delay I may get caught you get me“ (wenn ich zu spät bin, könnten sie mich erwischen, verstehst du). Der Chatverlauf ist auf Englisch. Woher Osman und Abu Luan kommen, wisse sie nicht, sagt L. „Ich glaube, dass hinter Abu Luan eine Person aus Albanien steht“, erzählt sie später den Beamten.
Osman wird zum mutmaßlichen Drahtzieher hinter dem angeblich geplanten Attentat. L. weiht ihn in ihre Pläne ein, sie schicken einander Nachrichten. Sie erzählt ihm von den Messerattacken, die sie ursprünglich mit W. vorgehabt habe und jetzt allein durchziehen wolle. Osman wiederum rät ihr aufgrund mangelnder Kampferfahrung davon ab. Später unterhalten sich beide über Sprengstoffgürtel. L. schlägt vor, sich im Darknet einen zu bestellen. Außerdem fragt sie Osman, ob er wisse, wie man selber eine Bombe bauen kann, und bekommt daraufhin eine „Zutatenliste“ zugeschickt, die nach Auswertung des Landesamts für Staatsschutz und Extremismusbekämpfung (LSE) zur Herstellung von Initialsprengstoff geeignet ist.
Am 10. Mai greifen erstmals auch die österreichischen Behörden ein. Bei einer Hausdurchsuchung werden unter anderen L.s Mobiltelefon, zwei Messer und zwei Laptops sichergestellt. Eine Woche später wird L. verhaftet. Seitdem sitzt die mittlerweile 14-Jährige in Untersuchungshaft in der Justizanstalt Graz-Jakomini. Am Montag wurde ihre U-Haft wegen Tatausführungs- und Verdunkelungsgefahr um einen Monat verlängert. Ihr Rechtsanwalt geht davon aus, dass die angeblich geplante Tat nur ein „Hirngespinst“ war und L. ein „emotional unreifer Mensch“ ist, der nie einen Anschlag verüben wollte. Trotzdem verstehe er nicht, weshalb sich das Mädchen überhaupt erst radikalisiert hat.
"Wenn es im Koran steht, muss es wohl rechtens sein."
TikTok-Islamismus
L. ist kein Einzelfall. Es gibt viele, die wie sie über TikTok radikalisiert werden. Davor warnen auch Staatsschützer – Tendenz wieder steigend. L. hat über diese Plattform überhaupt erst gelernt, was der IS ist. Sie wurde zwar islamisch erzogen, von Terrororganisationen hatte sie vorher aber keine Ahnung. Zuerst hat sie sich einige Videos angesehen – der Algorithmus spülte immer mehr herein. Irgendwann soll sie Freundschaftsanfragen von unbekannten Konten bekommen haben. „Ich habe diese angenommen und ausschließlich Inhalte auf arabischer Sprache von Accounts mit arabischen Namen bekommen“, sagt L. bei ihrer Einvernahme. Zuerst habe sie geglaubt, die Anhänger des IS seien Ungläubige, weil sie Menschen töten. Doch weil in den Chats immer wieder Bilder auftauchen, die mit Versen aus dem Koran versehen sind, ändert sie schnell ihre Meinung. „Wenn es im Koran steht, muss es wohl rechtens sein.“
Mit jeder weiteren Minute vor dem Bildschirm gerät L. tiefer in die Fänge der salafistischen „Prediger“, teilt ihre islamistische Weltsicht. Sie nimmt ein Video von sich auf, in dem sie Arabisch spricht und dem IS ihre Treue schwört. Sie malt Bilder in ihren Block, fotografiert und verschickt sie an Unbekannte in Chatgruppen. Auf einem karierten Blatt Papier zeichnet L. zwei Männer, einer von ihnen soll der IS-Henker „Jihadi John“ sein, der andere ein „Ungläubiger“. Er trägt einen jener orangefarbenen Overalls, die Geiseln der IS-Terroristen oft vor ihrer Hinrichtung anziehen mussten.
Ermittlungen stecken fest
Es ist kein neues Phänomen, dass Islamisten im Internet gezielt nach jungen Menschen suchen. Laut aktuellem Verfassungsschutzbericht sind Personen unter 25 Jahren besonders anfällig für extremistischen Islamismus. Im Jahr 2023 sind sie vermehrt in der dschihadisten Szene in Österreich aufgefallen. Drei von ihnen waren jene jungen Männer, die im vergangenen Jahr einen Anschlag auf die „Pride“ in Wien geplant haben sollen, den Festzug für mehr Rechte und Akzeptanz von queeren Personen mit mehr als 300.000 Besucherinnen und Besuchern.
Die drei Verdächtigen – damals 14, 17 und 20 Jahre alt – waren eine Woche nach der Verhaftung wieder auf freiem Fuß. Die Jugendlichen sollten stattdessen in ein Deradikalisierungsprogramm. Bei den Ermittlungen hat sich seither kaum etwas getan. Obwohl es keine spezifischen Hinweise auf eine Gefährdung der „Pride“ am 8. Juni gab, wurden die Sicherheitsmaßnahmen verstärkt. Die Terrorwarnstufe bleibt ebenfalls erhöht. Das bedeutet eine erhöhte Polizeipräsenz und Bestreifung auch in Zivil. Nähere Informationen möchte man beim Staatsschutz nicht verraten.
Im Fall der 14-jährigen L. sollen in den kommenden Tagen Resozialisierungsmaßnahmen erarbeitet werden. Das geht auf einen Antrag des Landesgerichts zurück, um zu überprüfen, ob sie vorzeitig aus der U-Haft entlassen werden kann. Ähnlich wie bei den drei Verdächtigen aus Wien stellt sich die Frage, wie konkret die Anschlagspläne tatsächlich waren. Das sei alles nur „ein Joke“ gewesen, ein Witz, schreibt L. drei Tage vor ihrer Verhaftung im Chat mit einer Bekannten. Den Beamten gegenüber betont sie, sie habe das nur gemacht, damit andere denken, sie sei stark. All jene, die den Islam hassen, verstehe sie nach wie vor als Feinde. „Ob es ihren Tod rechtfertigt, kann ich jetzt nicht mehr angeben“, sagt L. bei ihrer Einvernahme.
Sollte sie verurteilt werden, droht der 14-jährigen Schülerin eine Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten oder eine Abschiebung nach Montenegro.
Daniela Breščaković
ist seit April 2024 Innenpolitik-Redakteurin bei profil. War davor bei der „Kleinen Zeitung“.