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17 St 5/19d: Die Akte Türkis

Im Mai 2021 hatte sich die Staatsanwaltschaft schon Monate an das Machtzentrum der ÖVP herangearbeitet, acht Spitzenvertreter werden als Beschuldigte geführt - darunter nun auch der Regierungschef.

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Dieser Artikel erschien erstmals in profil Nr. 20/2021 vom 16.5.2021.

Empörung, Kopfschütteln, verkappte Rücktrittsaufforderungen: Die Aufregung in der ÖVP über moralische Defizite des Bundeskanzlers war groß und schwappte über - kein Wunder, ein Regierungschef gerät nicht alle Tage ins Visier der Staatsanwaltschaft. "Am schlimmsten ist, dass dieser Skandal die oberste Spitze unserer Bundesregierung erreicht hat", zeigte sich ÖVP-Politiker Karlheinz Kopf entrüstet. Und Salzburgs Parteichef Wilfried Haslauer holte aus: Der Regierungschef sei ein "Kunstprodukt, geklont von seinen Beratern",der sich "mit Steuergeld angenehme Berichterstattung kauft"-und die "Republik steckt in der schlimmsten Krise". Subtext: Dieser Kanzler ist nicht mehr tragbar.

So geschehen im Jahr 2011. Der Kanzler, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelte, hieß damals Werner Faymann (SPÖ).

Nicht nur die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit, auch die Erregung. Zehn Jahre später wird wieder ein Bundeskanzler als "Beschuldigter" geführt: Sebastian Kurz. Die Wirtschafts-und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) ermittelt gegen den Regierungschef wegen des Verdachts der falschen Zeugenaussage. Die Empörten des Jahres 2011 sind noch in Polit-Ämtern-Haslauer als Landeshauptmann und ÖVP-Obmann in Salzburg, Kopf als Generalsekretär der Wirtschaftskammer und ÖVP-Nationalratsabgeordneter. Doch zu hören war von ihnen, wie aus dem Gros der ÖVP, vor allem eines: schallendes Schweigen. Nur Steiermarks ÖVP-Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer stellte sich, im Namen aller Landeschefs, mit einer Solidaritätsadresse ein.

Ein untrügliches Zeichen, dass der Schock tief sitzt und die erfolgsverwöhnte Kanzlerpartei ins Mark trifft. Kein Wunder angesichts der Politbombe unter dem Aktenzeichen 17 St 5/19d: Seit Monaten arbeiten sich die Staatsanwälte an das Machtzentrum der ÖVP heran, ermitteln gegen ehemalige und amtierende ÖVP-Minister der türkisen "Familie",wie Finanzminister Gernot Blümel den engen Kreis um Sebastian Kurz in den mittlerweile berüchtigten Herzerl-Chats zu nennen pflegt.

Mit immer schrilleren Tönen setzte die türkise Führung zur Gegenwehr an, attackierte mit immer hektischeren Rundumschlägen Justiz, Medien, die EU. Vergeblich: Seit vergangener Woche steht mit Sebastian Kurz das Familienoberhaupt höchstpersönlich im Fokus der Justiz. Der schwerwiegende Vorwurf: Verdacht der falschen Zeugenaussage unter Wahrheitspflicht. Strafrahmen: bis zu drei Jahre Haft (siehe Seite 17).Kurz verteidigt sich damit, dass er "nichts Unwahres gesagt" habe, und kann "sich beim besten Willen nicht vorstellen", dass er verurteilt wird. Er hält es aber für gut möglich, dass Anklage gegen ihn erhoben wird. Das wäre einmalig in Österreich-noch nie fand sich ein amtierender Regierungschef auf der Anklagebank.

Vor genau zwei Jahren, Mitte Mai 2019, sprengte das Ibiza-Video die ÖVP-FPÖ-Regierung. Ermittlungen danach (Stichwort Spesenaffäre) offenbarten den Verdacht von Nehmerqualitäten von Ex-Parteichef Heinz-Christian Strache. Nun scheinen der Ibiza-Untersuchungsausschuss und verschiedene Ermittlungsverfahren das Spitzenpersonal der türkisen ÖVP an den Abgrund zu drängen: Kanzler Sebastian Kurz, sein Kabinettschef Bernhard Bonelli, ÖBAG-Chef Thomas Schmid und die Ex-ÖVP-Vizeobfrau Bettina Glatz-Kremsner stehen unter Verdacht, falsch vor dem U-Ausschuss ausgesagt zu haben. Glatz-Kremsner soll es darüber hinaus als Zeugin bei den Postenschacher-Ermittlungen der WKStA rund um die Casinos Austria (Casag) mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen haben. Schmid wird im Casag-Ermittlungsverfahren gemäß Verdachtslage die Beteiligung an einer Bestechung vorgeworfen. Dieses unangenehme Schicksal teilt er mit seinem früheren Chef im Finanzministerium, Ex-Minister Hartwig Löger. Bei Löger geht es darüber hinaus auch noch um den Verdacht des Amtsmissbrauchs. Ein weiterer Ex-ÖVP-Finanzminister zählt zu den Beschuldigten im Casag-Akt: Gegen Josef Pröll ermittelt die WKStA wegen mutmaßlicher Beteiligung an Bestechung, aber auch wegen Untreueverdachts-beides als Casinos-Vizeaufsichtsratschef. Dem aktiven Finanzminister Gernot Blümel droht in einem anderen Verfahrensstrang Ungemach. Gegen Blümel laufen Ermittlungen wegen Bestechungsverdachts rund um eine Handy-Nachricht des damaligen Novomatic-Chefs Harald Neumann, in der dieser Blümel um "einen kurzen Termin bei Kurz" bat: "erstens wegen Spende und zweitens bezüglich einen Problemes das wir in Italien haben".Wurde hier ein Parteispendenangebot mit einer Bitte um Hilfeleistung des damaligen Außenministers Kurz bei der Lösung eines teuren Steuerproblems des Glücksspielkonzerns in Italien verknüpft? Die WKStA ermittelt. Auch gegen Ex-Justizminister Wolfgang Brandstetter. Der nunmehrige Verfassungsrichter steht unter Verdacht, den suspendierten Sektionschef im Justizministerium, Christian Pilnacek, angestiftet zu haben, das Amtsgeheimnis zu brechen. Dabei soll es um eine Hausdurchsuchung beim Geschäftsmann Michael Tojner gegangen sein, für den Brandstetter als Rechtsberater fungierte. Alle Betroffenen bestreiten sämtliche Vorwürfe. Es gilt in vollem Umfang die Unschuldsvermutung.

Mit Ausnahme der Causa Brandstetter bildet die Aktenzahl 17St5/19d eine Klammer für eine Reihe von Subverfahren. Sie sind allesamt Teil des zunehmend voluminösen "Casinos"-Akts, der übrigens einen gewissen Heinz-Christian Strache nach wie vor als Erstbeschuldigten führt.

Eine lange Liste Beschuldigter, einmalig in der an Skandalen wahrlich reichen Geschichte der Zweiten Republik. Ob die ÖVP das fürchtete? Und deshalb die Wahrheitspflicht im U-Ausschuss abschaffen wollte? Und deshalb (im Verbund mit den Grünen) partout den Untersuchungsradius des U-Ausschusses drastisch eingrenzen wollte-und erst vom Höchstgericht, dem Verfassungsgerichtshof, daran gehindert wurde? Mehr noch: Inwieweit ist eine Regierung, deren Spitzenrepräsentanten Teile ihrer Tage damit verbringen, sich auf Aussagen vor der Korruptionsstaatsanwaltschaft vorzubereiten, noch handlungsfähig?

Gewiss ist: Mit den türkisen Spitzenpolitikern steht auch das System Kurz unter Verdacht. Eine ambitionierte Jungherrentruppe, die "neuen Stil" versprach, auf offener Bühne stets freundlich, uneitel und betont nahbar auftritt-abseits des Kameralichts aber kaltschnäuzig agiert, manchmal gar wie skrupellose Maschinisten der Macht. Und dazu neigt, den Staat mit der eigenen Partei zu verwechseln, das Land für einen Selbstbedienungsladen zu halten und Günstlinge in öffentliche Jobs hieven zu wollen-Stichwort: "Du gehörst zur Familie". Altehrwürdige Institutionen der Republik, selbst das Parlament oder die Justiz, schienen nur verstaubt und störend, nicht mehr als bürokratischer Formalkram und nervige Hürden im Politbetrieb.

Das Handwerk des politischen Taktierens beherrscht Kurz geschickt wie kaum ein anderer: Nach präzisem Drehbuch übernahm er die ÖVP, überdribbelte SPÖ-Kanzler Christian Kern schier mühelos, triumphierte bei den Wahlen 2017. Selbst Ibiza, die Implosion der FPÖ und die unrühmliche Tatsache, als erster Regierungschef via Misstrauensantrag aus dem Amt entfernt worden zu sein, steckte Kurz ohne bleibende Blessuren weg-um bei der Nationalratswahl 2019 gestärkt wiederzukommen, einen Kantersieg zu feiern und sich mit den Grünen neu zu erfinden. Sogar Affären wie die hochnotpeinliche Schredder-Causa-ein Mitarbeiter des Kanzleramts lässt unter falschem Namen Kanzleramts-Daten schreddern-perlten an Kurz, dem unantastbaren Strahlemann, ab. Eine ungebrochene Erfolgsserie, die dazu verführt haben könnte, sich für unverwundbar zu halten. Und zu glauben, man stehe über den Regeln.

Eine gewisse Hybris war Kurz nie ganz fremd. Seit der Corona-Pandemie, seit die Regierung mit Notverordnungen und nie da gewesener Machtfülle nie da gewesene Ausnahmezustände verhängte und die Beliebtheitswerte des Kanzlers in ungeahnte Höhen kletterten, zeigen sich Ansätze zur Arroganz der Macht. Wenn Fehler passieren, sind immer andere schuld, Entschuldigungen scheinen nicht vorgesehen, die eigene Sichtweise gilt als einzig mögliche, inhaltliche Einwände dagegen werden abgekanzelt und verächtlich gemacht. Besonders jene Institutionen werden diskreditiert, deren Aufgabe es ist, Fakten abseits der "Message Control" ans Tageslicht zu bringen und die Regierung zu kontrollieren-der Untersuchungsausschuss, der Parlamentarismus, die Wirtschafts-und Korruptionsstaatsanwaltschaft, die kritische Presse. Verächtlich machen, wo es nur geht! "Politische Löwinger-Bühne" nennt ÖVP-Tourismusministerin Elisabeth Köstinger den U-Ausschuss, Finanzminister Gernot Blümel lümmelt ohne Schuhe im Parlament, türkise Minister schwänzen Sitzungen, Sebastian Kurz ist im Nationalrat mehr mit seinem Handy beschäftigt als mit Reden der Abgeordneten. Die Wirtschafts-und Korruptionsstaatsanwaltschaft gilt als "links", kritische Medien sowieso. Türkis regiert nach klarem Freund-Feind-Schema.

Dementsprechend herablassend, teils schnoddrig trat Kurz am 24. Juni 2020 vor dem U-Ausschuss auf-das bringt ihn nun in die größten Kalamitäten seiner Kanzlerschaft. Es ist der (vorläufige?) Höhepunkt einer langen Serie von türkisen Konflikten mit der Justiz. Dass er sich wenig um Verfassung, Grundrechte und den Rechtsstaat schert, daraus machte Kurz nie ein Hehl. Als "juristische Spitzfindigkeiten" tat Kurz die Diskussion ab, ob die Corona-Verordnungen rechtmäßig sind-reichlich nonchalant angesichts der Grundsatzfrage, ob Grundrechte in einer Pandemie ausgesetzt werden können. Attacken auf die Justiz gehören mittlerweile zum Standardrepertoire der türkisen ÖVP-zum anschwellenden Unmut von Richtervereinigung und Co, allesamt weit davon entfernt, "links" zu sein. Vor wenigen Tagen dann eine Eskalation, eine neuerliche Premiere: Bundespräsident Alexander Van der Bellen musste Finanzminister Gernot Blümel mit Zwangsvollstreckung drohen-und zwar wohlgemerkt auf Aufforderung des Höchstgerichts. Blümel hatte dem U-Ausschuss, dem Kontrollorgan des Parlaments, hartnäckig Mails verweigert und eine Anordnung des Höchstgerichts einfach ignoriert. Worauf sich der VfGH an den Bundespräsidenten wandte. Der im Extremfall mit dem Bundesheer bei Blümel hätte anrücken können.

Das mag man als Lappalien abtun, die Aufregung darüber als hysterisch-aber nur dann, wenn man sich in Jahrzehnten des Rechtspopulismus daran gewöhnt hat, über Angriffe auf den Rechtsstaat mit Augenzwinkern hinwegzugehen. Schon Kärntens Landeshauptmann Jörg Haider ignorierte vor zwei Jahrzehnten großmäulig nicht opportune Höchstgerichtserkenntnisse zu Ortstafeln.

Das ist eben keine Kleinigkeit, wie Manfred Matzka, langjähriger Sektionschef im Kanzleramt, ausführt: "Der Finanzminister hat gegen die Verfassung verstoßen. Man kann das nicht mit einem Bürger vergleichen, der seine Steuer nicht zahlt: Der Finanzminister ist auf die getreuliche Beachtung der Verfassung vereidigt, er hat gelobt, die Gesetze nicht zu brechen." Und: "Mit der Verfassung spielt man nicht." Kommenden Montag folgt im Parlament ein Antrag auf Ministeranklage gegen Blümel-die wohl in der Minderheit bleiben wird, weil die Grünen der ÖVP die Treue halten. Diesmal. Aber wie lange noch?

Diese Frage treibt Politbeobachter um. Mit dem Slogan "saubere Politik" zogen die Grünen in den Wahlkampf, wie viele Ermittlungen gegen den Koalitionspartner können sie sich leisten, ohne selbst beschädigt zu werden? Derzeit lautet die grüne Devise: Die Justiz arbeiten lassen. "Dass die Staatsanwaltschaft gegen den Kanzler ermittelt, ist möglich, weil die Grünen die Justizministerin stellen", betonte Klubobfrau Sigrid Maurer. Klar ist aber wohl: Falls es zu einer Anklage gegen Kurz kommen sollte, werden grünintern die Rufe nach einem Ausstieg aus der Koalition sehr laut werden.

Wird es zu einer Anklage kommen? Gar zu einer Verurteilung? Ist der U-Ausschuss ein Tribunal, wo "Abgeordnete der Opposition mit Unterstellungen und Untergriffen arbeiten",wie Kanzler Kurz sagt?

Wer Antworten auf diese Fragen sucht, kann sie bei Alfred Noll finden. Der Jurist besitzt gut 20 unterschiedliche Ausgaben der österreichischen Bundesverfassung-und kennt das Parlament seit einem Gastspiel bei der "Liste Pilz/Jetzt" von innen. Noll analysiert: "Die Stellung des Parlaments im Verhältnis zur Regierung ist in Österreich im internationalen Vergleich extrem schwach. Das setzt sich fort: Auch die Möglichkeiten eines Untersuchungsausschusses sind viel schwächer als etwa in Großbritannien, Deutschland oder in den USA."Im Jahr 2015 wurden U-Ausschüsse ein Minderheitenrecht-reichlich spät für ein Kontrollrecht. Bis heute ist dieses Kontrollrecht aber, so Noll, "durch Verfahrensordnung und Geschäftsordnung limitiert".Das hat Konsequenzen: "Das führt notwendigerweise dazu, dass der U-Ausschuss zur politischen Selbstdarstellung gebraucht wird. Er ist eine der wenigen Schaubühnen für die Opposition."Spitzenjurist Noll hält in der Causa Kurz eine "Anklage für wahrscheinlich".Und dann? "Man müsste Kurz einen Vorsatz nachweisen. Nach meinem Wissensstand aus 58 Seiten Ermittlungsakt glaube ich, dass er wohl freigesprochen werden wird."

Im Ausland scheint das Urteil gefällt, der deutsche "Stern" etwa nennt Österreich abfällig "Bananenrepublik".Sebastian Kurz scheint entschlossen, es auf einen Prozess ankommen zu lassen. Seine Reaktionslinie scheint schon gefunden: Last Exit Opferrolle. Er beklagt die "ständigen Versuche, mich aus dem Amt zu befördern". Das hat Tradition. In der Opferrolle fühlten sich Rechtspopulisten stets besonders wohl. Schon Jörg Haider warb mit Slogans wie "Sie sind gegen ihn, weil er für Euch ist",bei Ex-US-Präsident Donald Trump klang es so: "Sie versuchen mich zu stoppen, weil ich für Euch kämpfe." Bei Kurz lautete der Slogan bereits nach dem Misstrauensantrag: "Das Parlament hat bestimmt, das Volk wird entscheiden."

Und jetzt trommelt die ÖVP: Schuld sei die Opposition. "Die Anzeigenpolitik der Opposition zerstört den politischen Diskurs", wettert ÖVP-Bundesgeschäftsführer Axel Melchior. Ganz logisch ist diese Erregung nicht: Verfasst doch auch die ÖVP Anzeigen wegen mutmaßlich falscher Aussagen im U-Ausschuss-konkret gegen Burgenlands Landeshauptmann Hans Peter Doskozil.

Nicht nur die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit, auch die Erregung.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin

Stefan   Melichar

Stefan Melichar

ist Chefreporter bei profil. Der Investigativ- und Wirtschaftsjournalist ist Mitglied beim International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ). 2022 wurde er mit dem Prälat-Leopold-Ungar-Journalist*innenpreis ausgezeichnet.

Michael   Nikbakhsh

Michael Nikbakhsh

war bis Dezember 2022 stellvertretender Chefredakteur und Leiter des Wirtschaftsressorts.