„Überfallsartig vergasen“

1934: Wollte Kanzler Dollfuß E-Werks-Arbeiter „überfallsartig vergasen”?

Titelgeschichte. Kurz vor dem 80. Jahrestag der Februarereignisse 1934 taucht ein brisantes Dokument auf

Drucken

Schriftgröße

Die Nacht war dramatisch verlaufen. Um 19 Uhr war es zu Kämpfen in der Döblinger Barawitzkagasse gekommen, gegen Mitternacht nimmt die Artillerie von der Hohen Warte aus den Karl-Marx-Hof mit schwerer Artillerie unter Beschuss. Um drei Uhr früh zerren Heimwehrmänner den sozialdemokratischen Bürgermeister Karl Seitz unter wüsten Beschimpfungen aus seinem Büro und bringen ihn ins Polizeigefangenenhaus. Die Stadträte waren schon am Abend verhaftet worden. In den frühen Morgenstunden setzen Einheiten zum Sturm auf den Högerhof an, einen Gemeindebau in Wien Simmering. Bei der Philadephiabrücke in Meidling fahren Panzerzüge auf.

Überfallsartig zu vergasen
Um acht Uhr dieses 13. Februar 1934 trifft im Wiener Polizeipräsidium ein Anruf aus dem Bundeskanzleramt ein. Der Anrufer ist Ministerialsekretär Albert Hantschk, einer der engsten Mitarbeiter von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß. Im Präsidium nimmt der Jurist Walter Sturminger den Anruf entgegen und legt sofort einen Aktenvermerk an: „Dr. Hantschk, BKA, teilt mit: Bundeskanzler Dr. Dollfuß habe die Anregung gegeben, die E-Werke in Simmering nicht zu stürmen, sondern überfallsartig zu vergasen, damit die Arbeiter keine Gelegenheit hätten die Maschinen zu zerstören. Herrn Präsident gemeldet.“ Gezeichnet: Dr. Sturminger.

Der irritierende Aktenvermerk lag jahrzehntelang unbeachtet in einer dicken Klade des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW), bevor ihn der Historiker Fritz Keller vor einigen Wochen eher zufällig fand, als er für ein Buch über die alte sozialdemokratische Familie Pölzer recherchierte. Kellerüberließ das Papier profil für weitere Recherchen.

Ist es denkbar, dass dieses Dokument echt ist und wenn ja: Hatte sich der Referent aus dem Kanzleramt unklar ausgedrückt oder der Polizeijurist etwas missverstanden?

Das ist eher unwahrscheinlich. Beide waren tüchtige Beamte und machten nach 1945 bemerkenswerte Karrieren: Hantschk wurde Chef der industriepolitischen Sektion im Handelsministerium, Sturminger Sektionschef im Unterrichtsministerium. Sturminger wurde außerdem als Autor vielbeachteter Bücher über die zweite Wiener Türkenbelagerung bekannt.

Aber war es dem christdemokratischen Kanzler, einem tief religiösen Bauernsohn aus dem niederösterreichischen Alpenvorland, tatsächlich zuzutrauen, dutzende Arbeiter kaltblütig mit Giftgas töten zu wollen?

Um das Papier einordnen zu können, ist dessen Vorgeschichte zu analysieren.

Die beiden großen politischen Lager waren einander seit Beginn der 1920er-Jahre unversöhnlich gegenüber gestanden. Die Sozialdemokraten (SDAP) waren eine verbalradikale Linkspartei, was dafür sorgte, dass die Kommunisten, anders als in Deutschland, bedeutungslos blieben. Gleichzeitig ging man daran, im „roten Wien“ eine sozialistische Gegenwelt aufzubauen, mit neuen Sozialleistungen und prächtigen Gemeindebauten. Bis zur Machtergreifung Adolf Hitlers im Jänner 1933 gaben die Theoretiker der Partei, wie etwa Otto Bauer, die Forderung nach einem Anschluss an Deutschland nicht auf, weil sie die Verwirklichung des Sozialismus nur in einem größeren Staatengebilde für möglich hielten. Der Begriff „Österreich“ galt den Sozialdemokraten nicht viel: Er erinnerte sie an das verhasste Haus Habsburg.

Die Christdemokraten hatten das Ende der Habsburger-Monarchie nie überwunden und stützten sich auf den politischenKatholizismus der österreichischen Kirche. Demokratie und Parlamentarismusblieben ihnen fremd. Seit 1920 hatte die politische Rechte eine paramilitärische Truppe, die sogenannten Heimwehren. Die Sozialdemokraten antworteten 1923 mit einem eigenen Wehrverband, dem Republikanischen Schutzbund.

Eine treffende Charakterisierung jener Zeit gelang 1946 dem damaligen KPÖ-Chefideologen Ernst Fischer: „Die Demokraten waren zu wenig österreichische Patrioten, die Patrioten zu wenig Demokraten.“

Aus den Nationalratswahlen 1930, den letzten der Ersten Republik, gingen die Sozialdemokraten mit 41,1 Prozent als klarer Sieger hervor. Die Christdemokraten erreichten nur 35,7 Prozent. Nach mehreren Übergangskanzlern bildete Engelbert Dollfuß im Mai 1932 eine Regierung aus Christlichsozialen, Heimwehren und Landbund.

Er geriet sofort von allen Seiten unter Druck: Die Heimwehren wollten gegen die Roten losschlagen. Die Nationalsozialisten hatten bei den Nationalratswahlen zwar nur drei Prozent der Stimmen bekommen, führten jetzt aber immer öfter Anschläge durch. Dollfuß suchte eine Schutzmacht und fand sie in Benito Mussolinis Italien. Auch Mussolini drängte Dollfuß zum Schlag gegen die Sozis. Die Zeit für „Reformen in entschieden faschistischem Sinn“ sei gekommen, Dollfuß dürfe den Antimarxismus nicht den Nazis überlassen und müsse „die Felsenfestung Wien“ zerstören.

Vier Wochen nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland schlug Dollfuß zu: Am 4. März 1933 löste er nach einer Abstimmungspanne den Nationalrat auf und führte die Pressezensur ein. Ab Mai 1933 durfte auch der Verfassungsgerichtshof nicht mehr zusammentreten. Der traditionelle Maiaufmarsch der SDAP wurde untersagt. Man schlage die Sozialdemokratie jetzt „Glied für Glied zum Krüppel“, triumphierte Heeresminister Carl Vaugoin in einer Kabinettssitzung im Juni 1933.

Die von Mussolini geforderte endgültige Zerschlagung der Parteien verkündete Dollfuß beim Katholikentag am 12. September 1933, dem 250. Jahrestag des Siegs der christlichen Heere über die Türken vor Wien: Einen „sozialen, christlichen, deutschen Staat auf ständischer Grundlage mit starker autoritärer Führung“ wolle er schaffen. Im November verhängte der Kanzler das Standrecht und führte die Todesstrafe ein ...

Lesen Sie die Titelgeschichte von Herbert Lackner in der aktuellen Printausgabe oder als e-Paper (www.profil.at/epaper)!

Herbert Lackner

war von 1998 bis zum Februar 2015 Chefredakteur von profil. Heute schreibt der Autor mehrer Bücher als freier Autor für verschiedene Medien, darunter profil.