Zweiter Weltkrieg

Wie sich Österreich nach 1945 neu erfand

Vor 80 Jahren wurde angelegt, was das Land bis heute ausmacht – im Guten wie im Fragwürdigen.

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Hauptmann Kirchschläger hat keine Chance. An der Spitze einer Kompanie von „Fahnenjunkern“ der Offiziersschule in Wiener Neustadt soll er den Vormarsch der Roten Armee stoppen, die innerhalb von zwei Tagen im Mittelburgenland mehrere SS-Panzereinheiten einfach überrannt hat. Am Ortsrand von Erlach in der Buckligen Welt wird die vom späteren Bundespräsidenten geführte Kompanie rasch aufgerieben, 32 der etwa 100 jungen Fähnriche sterben, Rudolf Kirchschläger wird am Bein verletzt, seine dritte Verwundung in diesem Krieg. Deshalb war er ja an die Wiener Neustädter Kriegsschule als Lehroffizier für Taktik versetzt worden. Sein Einsatz als Kompanieführer in einem aussichtslosen Gefecht wird ihm später oft vorgehalten werden.

An jenem 31. März 1945, an dem die Einheit Rudolf Kirchschlägers zum opferreichen Rückzug gezwungen wird, ist das Schicksal Wiens besiegelt: Die zweitgrößte Stadt des Deutschen Reichs wird Kampfzone, sie liegt, unzureichend geschützt, nur noch 50 Kilometer vor der Front. 13 Tage später ist Wien von den Rotarmisten eingenommen, die zur Verteidigung der Stadt eingesetzten SS-Truppen haben sich nach Norden und Westen abgesetzt.

Die Kämpfe um Wien waren von erbarmungsloser Härte: Rund 38.000 Soldaten fielen, etwa zu gleichen Teilen solche der Wehrmacht und der Roten Armee. Auch für die Bewohner Wiens waren die Kriegstage im April 1945 traumatisch: Seit der Einnahme durch Napoleon 1809 hatte kein Krieg mehr die Stadt erreicht, auch wenn es 1848 und 1934 kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hatte. In den zwei Wochen der Kampfhandlungen in und um Wien starben 10.000 Zivilisten, etwa ebenso viele waren bei den ab Frühjahr 1944 einsetzenden Bombenangriffen der U.S. Air Force ums Leben gekommen.

In diesem April 1945 enden elf Jahre der Diktatur, nur Menschen jenseits der 20 können sich noch an die zumindest zeitweise funktionierende Demokratie der Ersten Republik erinnern. Nicht nur die Städte sind verwüstet, auch in den Herzen und Köpfen hinterlassen die Jahre der Diktatur schwere Verwüstungen. Bis in die letzten Kriegstage beteiligten sich auch Zivilisten an Misshandlungen und Massakern.

Grausamkeiten bis zuletzt

Am 6. April, die Rote Armee ist in Wien schon bis zum Gürtel vorgerückt, ermorden Mitglieder des „Volkssturms“ – also Jugendliche und alte Männer – gemeinsam mit der SS im Gefängnishof von Stein 369 Häftlinge. In Göstling an der Ybbs, am Fuße des Skigebiets Hochkar, werden am 13. April 76 bei Straßenarbeiten eingesetzte ungarische Männer, Frauen, Kinder in einer Baracke zusammengetrieben, worauf SS und Hitlerjugend Handgranaten durch die Fenster werfen und die Hütte in Brand stecken. Wer fliehen will, wird mit Maschinenpistolen niedergemäht. Im nahen Gresten werden 16 ungarische Juden in einen Wassergraben getrieben und erschossen. In Mauthausen legen am selben Tag von einem aus Pressburg kommenden Dampfschiff gezogene Flöße mit mehreren Hundert halbtoten Juden an. Ein Zeuge erzählt später: „Die vom Hunger geschwächt waren, fielen oft in die Donau, wenn sie über die schmale Stiege an Land gebracht wurden. Sofort schossen die SS-Männer mit Maschinenpistolen auf ihre Köpfe. Die Szene hatte auch viele zivile Zuschauer, die sich dabei prächtig unterhielten.“

In Eisenerz malträtieren Einheimische am 8. April 1945 auf einem Todesmarsch durch die Gemeinde ziehende Juden. Ein Überlebender erinnerte sich: „Das Publikum, das gerade aus dem Kino kam, bewarf die Kolonne mit Steinen, bespuckte Einzelne und zeigte seine Freude über das Leid dieser Menschen.“ Die ungarischen Juden, eingesetzt bei sinnlosen Schanzarbeiten in der Steiermark und im Burgenland, werden bei Herannahen der Roten Armee auf Gewaltmärschen über mehr als 300 Kilometer nach Mauthausen getrieben. Mehr als die Hälfte überleben das nicht.

Herbert Lackner

war von 1998 bis zum Februar 2015 Chefredakteur von profil. Heute schreibt der Autor mehrer Bücher als freier Autor für verschiedene Medien, darunter profil.