50 Jahre profil: Qualitätsjournalismus in der heutigen Zeit
Der langjährige profil-Chefredakteur Sven Gächter ist im Alter von 60 Jahren gestorben. Aus diesem Anlass bringen wir einige Texte aus dem Archiv. Dieser Text ist in profil 38/2019 vom 13.September 1999 erschienen
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Wie geht's den Kaninchen?
Als die Welt noch klein, überschaubar und ungemein in Ordnung war, reichte die Bezirkszeitung für einen rundum ausgeglichenen Informationshaushalt. Papa las Sport, Politik und Wirtschaft (in dieser Reihenfolge), Mama löste das Kreuzworträtsel und überflog die Rubrik "Vermischtes", die sich ganz dem regen Verlobungstreiben im europäischen Hochadel widmete (damals war auch die Welt der Royals noch in Ordnung) - und die Kinder hatten keinen Bildungsbedarf, der nicht durch ein paar bunte Comicstrips befriedigt werden konnte.
Was im Lokalblatt stand, hatte allein dadurch Gewicht, dass es dort stand. Das gedruckte Wort galt als unumstößlich. Es musste nicht überprüft oder bezweifelt werden. Die Nachrichtenlage hielt kaum Überraschungen bereit, denn sie ergab sich von selbst: durch die beschauliche Kompaktheit der Lebensumstände, die als Gegenstand der Berichterstattung infrage kamen. Der 85.Geburtstag des früheren Volksschuldirektors, die alljährliche Hauptversammlung des Kaninchenzüchtervereins, der lang ersehnte Aufstieg des heimischen Fußballklubs in die Bezirksliga erforderten seitenfüllende Aufmerksamkeit. Alles andere war weit weg, ohne große Bedeutung diesseits des unmittelbaren Erfahrungshorizonts, und kam deshalb gar nicht oder nur am Rande vor. Wer über die provinzielle Basisversorgung hinaus Wissensdrang entwickelte, machte sich schon verdächtig.
Das ist, zugegeben, eine Ewigkeit her. In Österreich dauerte sie bis in die späten 1980er-Jahre, als die Causa Waldheim den bleiernen Konsens, wonach die Medien nichts weiter seien als willfährige Verlautbarungsorgane für Politiker, Parteien und anderweitig potente Interessengruppen, ein für alle Mal zertrümmerte. Genau gegen diesen modrigen medialen Mainstream war profil schon im September 1970 angetreten.
Die dunkle Seite des Regenbogens
1883 kaufte der ungarisch-amerikanische Verleger Joseph Pulitzer die schwer defizitäre "New York World", die er binnen zehn Jahren mit einer damals unerhörten Mischung aus reißerischen Schlagzeilen und investigativen Reportagen in eine der erfolgreichsten Zeitungen des Landes umwandelte. Zum griffigen Markenzeichen wurde "The Yellow Kid", der erste moderne Cartoon in Farbe. Auf ihn geht die Bezeichnung "Yellow Press" als Synonym für Boulevardblätter zurück.
Pulitzer starb 1911. In seinem Testament hatte er zwei Millionen Dollar für die Gründung einer Journalistenschule ausgelobt: Die Columbia University Graduate School of Journalism gilt bis heute als führende Kaderschmiede; seit 1917 vergibt sie den Pulitzer-Preis für herausragende Leistungen im Journalismus. Dass die weltweit begehrteste Branchentrophäe nach einem Pionier der Regenbogenpresse benannt ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Qualität braucht, um als solche wahrgenommen zu werden, offenbar ein gewisses Substrat der Schäbigkeit, von dem es sich glanzvoll abheben kann.
In seinem Buch "The Gutenberg Galaxy" (1962) prägte der kanadische Philosoph Marshall McLuhan den Begriff "global village". Er steht für die Entgrenzung der Kommunikation im virtuellen Raum. "The medium is the message", postulierte McLuhan zwei Jahre später in "Understanding Media" und schuf damit ein ebenso viel zitiertes wie weithin missverstandenes Mantra, dessen wahres visionäres Potenzial sich erst Jahrzehnte später erweisen sollte. Nicht Inhalte seien es in erster Linie, die auf den Menschen und die Gesellschaft einwirkten, so McLuhan, sondern vielmehr die spezifischen Merkmale des Mediums selbst, in dem die Botschaften transportiert würden. Das Funktionsprinzip des Internets lässt sich kaum präziser umschreiben.
Mit Radio und Fernsehen war das Nachrichtenwesen längst in das Zeitalter der Massenmedialität eingetreten. Vor der Jahrtausendwende konnte der Printjournalismus die elektronische Konkurrenz noch einigermaßen unbeschadet auf Abstand halten. Das sollte sich mit dem Siegeszug des World Wide Web dramatisch ändern.
Alles gratis-alles Lüge!
Im Unterschied zu Popmusik, Kino und Fernsehen hat der Journalismus - als Geschäftsmodell - den Internetschock bis heute nicht profitabel verkraftet. Grund dafür war ein strategischer Sündenfall, geboren aus vorauseilender Panik: Um den Anschluss an die druckvoll anrollende Digitalisierung nicht zu verpassen, begannen Medien sehr früh damit, Inhalte kostenlos online zu stellen - mit der fatalen Konsequenz, dass Nachrichten ihren Status als gebührenpflichtiges, also prinzipiell kostbares Gut zusehends einbüßten. Was praktisch überall gratis verfügbar ist, wird irgendwann buchstäblich wertlos. Warum sollte ich für etwas so Selbstverständliches bezahlen?, fragt der landläufige User entgeistert, und wenn ein neunmalkluger Algorithmus ihn versehentlich zu einer Paywall navigiert, wählt er meist schulterzuckend eine bequeme Alternativroute. Im hochfrequenten Universum der Nachrichten ist die Mautpflicht nicht populär.
Da der Marktwert der Handelsware Information mittlerweile gegen null tendiert, wird ihr in gewissen - durchaus reichweitenstarken - Kreisen kaum noch Respekt entgegengebracht. Die klassischen Medien gelten dort als Sprachrohre eines korrupten, an der wahren Bewusstseinslage des "Volkes" fundamental desinteressierten Elitensystems. Der durchschnittliche FPÖ-,Pegida-,AfD-,Identitären-,AltRight-oder 8Chan-Anhänger hat dafür nur ein pauschales Schimpfwort übrig: "Lügenpresse". Er begnügt sich indes nicht damit, das konventionelle Nachrichtenangebot rundweg abzulehnen, er schwört trotzig auf "alternative Fakten". Deren Substanz hält in der Regel zwar keiner auch nur halbwegs seriösen Überprüfung stand, doch in diesen Sphären greifen die handlichen Richtlinien einer Religion: Wer partout an etwas glauben will, ist durch nichts und niemanden davon abzubringen.
So hat sich in der vernetzten Welt unaufhaltsam eine zweite Leitwährung etabliert: Fake News. Mit spröden journalistischen Mitteln wird man diese vor allem in den sozialen Medien virulente Seuche schwerlich eindämmen-schon deshalb, weil die Politik ihr Infektionspotenzial erkannt hat und gezielt ausbeutet. In Autokratien gehört Desinformation zum kommunikativen Standardrepertoire. Doch auch demokratisch verfasste Gesellschaften sind davor nicht gefeit: Die Präsidentschaft von Donald Trump etwa basiert neben dumpfem Altherren-Narzissmus vor allem auf dreisten Lügen. Medien, die diese als solche entlarven, werden unumwunden zu "Staatsfeinden" erklärt - ein zwar durchschaubar primitiver, aber höchst wirkungsvoller Reflex. Dass Twitter grob faktenwidrige Trump-Tweets inzwischen kennzeichnet, dürfte nur bei ausgewählt wenigen seiner rund 86 Millionen Follower kathartische Effekte zeitigen.
Da schau her!
Journalismus, die eilige Dreifaltigkeit aus Neugier, Sorgfalt und Relevanz, steht im 21. Jahrhundert also unter doppelt massivem Druck: Seine ökonomische Existenzgrundlage bröckelt unaufhaltsam weg, und seine Glaubwürdigkeit wird immer aggressiver infrage gestellt. Weithin verfestigt sich die Meinung, Journalismus sei ein Übel-und nicht einmal ein notwendiges. Halb so schlimm, sagen Berufszyniker: Alles nur eine willkommene Verschleißerscheinung angesichts des Informationssperrfeuers, dem wir permanent ausgesetzt sind. Doch das Resultat bleibt dasselbe: ennui. Medien sind, um zu überleben, auf einen ebenso unverzichtbaren wie flüchtigen Rohstoff angewiesen: Aufmerksamkeit. Und die müssen sie sich heute härter denn je erkämpfen. Die Methoden, die dabei zum Einsatz kommen, sind entscheidend für die Frage, was Qualitäts-von Schrott-und Fake-Journalismus unterscheidet.
Qualität ist keine objektive, in Granit gemeißelte Eigenschaft, sondern im Grunde nichts weiter als eine Zuschreibung, die gnädig gewährt oder brüsk verweigert werden kann-je nach Standpunkt und Laune der urteilenden Instanz. Wer aber darf verbindlich darüber befinden, ob das Prädikat Qualität zutrifft oder nicht? Es sind letzten Endes immer die Adressaten journalistischer Arbeit, also Sie, liebe Leserin, werter Leser! Nur: Woher sollen Sie so genau wissen, was im Zweifelsfall den Mehrwert begründet? Ganz einfach: Sie müssen uns vertrauen - und wir müssen Ihr Vertrauen rechtfertigen, immer wieder.
Der verflixte Q-Faktor
Spoileralarm: Qualitätsjournalismus ist keine Hexerei, sondern das Ergebnis harter, akribischer und oft genug mühseliger Arbeit. Man muss recherchieren, Fakten checken und gegenchecken, bei umstrittenen Themen die einen Meinungsführer zu Wort kommen lassen, aber auch die anderen (selbst wenn sie einem zuwider sind), Kommentare durch stichhaltige Argumente untermauern, Shitstorms aussitzen, Einschüchterungsversuche abwehren. All das erfordert solides Handwerk, Kompetenz, Integrität, Leidenschaft, Fantasie, Geduld, Äquidistanz, Rückgrat, Beharrungsvermögen, Selbstbewusstsein, aber auch Selbstkritik. Und es kostet Zeit und Geld - sehr viel mehr Zeit und Geld, als der Markt mittlerweile umstandslos hergibt.
Der Punkt, an dem Journalismus und Qualität eine geglückte Verbindung eingehen, ist mit freiem Auge oft schwer auszumachen, weil der Q-Faktor nicht widerspruchsfrei definiert werden kann. "Österreich"-Tycoon Wolfgang Fellner würde die (durchaus naheliegende) Unterstellung, ein Trashblatt herauszugeben, sicher entrüstet zurückweisen (oder gleich gerichtlich anfechten). Auch notorische Alternative-News-Schleudern wie Fox News oder Breitbart nehmen ungeniert einen Qualitätsbonus für sich in Anspruch - mit der fadenscheinigen Legitimation, das Informations- und Meinungsbildungsmonopol der klassischen Medien zu durchbrechen. Dass sie in Wahrheit nur mit Hypes, Hetze und Bullshit aufwarten, ist für die innere Balance ihrer Parallelrealität nicht hinderlich, sondern konstitutiv.
Sind wir nicht alle Journalisten?
Niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit wurde so viel geschrieben. Alle tippen pausenlos vor sich hin. Jeder Gedanke-und sei er noch so dumm, banal oder böse-muss umgehend ins Netz gestellt und von Friends und Followers wortreich taxiert werden. Selbst wenn man sämtliche Emojis, Likes und Dislikes, Frage-,Ruf-und Sonderzeichen ausblendet, bleibt immer noch unfassbar viel Text übrig. Die sozialen Medien sind, zweidimensional betrachtet, eine endlos lange Papyrusrolle, bis an den Rand vollgekritzelt mit Spurenelementen von Sinn und reihenweise Unsinn. Gemessen am schieren Ausmaß der Schriftlichkeit müssten in den vergangenen 20 Jahren kolossale Alphabetisierungsfortschritte erzielt worden sein; der homo sapiens ist zum homo scribens mutiert, was nur leider nicht das Geringste über seinen Intelligenzhorizont aussagt. Schreiben mag vielen inzwischen als zentrale, ganz selbstverständliche Kulturtechnik erscheinen-echte Medienarbeit jedoch unterliegt ganz anderen Kriterien. Eine Meinung zu haben und sie öffentlich zu äußern, begründet noch keinen journalistischen Akt. Wer ein Ikearegal halbwegs unfallfrei zusammenbauen kann, wird deshalb ja auch nicht gleich einen Ingenieurstitel beanspruchen (und wer es mutwillig zertrümmert, schon gar nicht).
Wühltischgebete
Journalismus ist heute eher ein rezept- als vergnügungssteuerpflichtiges Gewerbe. Es erfordert neben unausgesetzter Produktivität, Stressresistenz und Omnipräsenz in allen sozialmedialen Kanälen ein robustes Maß an Leidensbereitschaft. Klagen über zusehends prekäre Arbeitsbedingungen sind berechtigt, aber vollkommen zwecklos. Das abenteuerliche Fluidum der Exklusivität haben Medien längst eingebüßt; sie kämpfen an allen Fronten um Reichweite, Reputation und Rendite, oft genug auch nur ums nackte Überleben. Doch der lähmende Krisenmodus ist nicht allein der Widrigkeit äußerer Umstände geschuldet. "Die wirklich große Gefahr für den Journalismus geht vom Journalismus, von den Medien selbst aus - von einem Journalismus, der den Journalismus und seine Kernaufgaben verachtet; der Larifari an die Stelle von Leidenschaft und Haltung setzt", sagte Heribert Prantl, Starautor der "Süddeutschen Zeitung", 2013 in einer Rede vor österreichischen Medienmanagern: "Die Gefahr geht von Verlegern aus, die den Journalismus aus echten und vermeintlichen Sparzwängen kaputtmachen; sie geht von Medienunternehmern aus, die den Journalismus auf den Altar des Anzeigen- und des Werbemarkts legen."
Störgeräusche in der Echokammer
Der Altar ist mittlerweile einem Wühltisch gewichen. Journalistische Inhalte werden darauf schon mal im Dutzend billiger verramscht, wenn nicht unbedingt gewinnbringend, so zumindest kostendeckend. Die Werbewirtschaft diktiert den klammen Medien bei Bedarf auch erbarmungslos den Tarif: Inserate gibt es nur gegen willfährige Berichterstattung. Sich solchen Begehrlichkeiten zu widersetzen, erfordert in Zeiten drastisch schrumpfender Redaktionsbudgets genau jene Standhaftigkeit, die Qualitäts- von Basarjournalismus abgrenzt.
"Wo bleibt das Positive? Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt", schrieb Erich Kästner 1930 in einem seiner weniger gut gelaunten Momente:
Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln. Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis. Es gibt genug Lieferanten von Windeln. Und manche liefern zum Selbstkostenpreis.
Man muss die Metaphorik nicht weiter vertiefen, sie erklärt sich von selbst und provoziert ein entsprechend schmutziges Gedankenexperiment: Was würde denn fehlen, wenn Journalismus nichts anderes mehr wäre als ein x-beliebiges Wegwerfprodukt, nur auf primitivste Lesestoffwechselprozesse zugeschnitten? Es würde kategorisch und schmerzhaft fehlen, was Sonntagsredner gern ebenso salbungsvoll wie folgenlos beschwören: die Vierte Gewalt. Sie ist nach wie vor die zuverlässigste Klär-und Filteranlage für Realität, ein niemals stillstehender Diskursgenerator und ein hochsensitiver Kontrollmechanismus - kurz: der Maschinenraum der Aufklärung.
Seit Jahrhunderten gilt die Pressefreiheit als eine tragende Säule der Demokratie. Sie muss, um ernsthaft gefährdet zu sein, gar nicht verboten werden-es reicht schon, wenn hinreichend viele Menschen teilnahmslos dabei zuschauen, wie sie schleichend ausgehöhlt wird, weil das kollektive Bewusstsein für ihre Wichtigkeit erodiert.
"Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist", sagte FPÖ-Kandidat Norbert Hofer im Präsidentschaftswahlkampf 2016. Er zog am Ende zwar nicht in die Hofburg ein, 2017 dafür in die Regierung. Und auch wenn er eineinhalb Jahre später nach Ibizagate hochkant wieder hinausflog, hat seine Drohung unverändert Bestand-als Menetekel latenter Repression. Dass raue Eminenzen von Hofers Schlag auf die leidige Trennschärfe zwischen News und Fake News ohne Not verzichten könnten, und zwar lieber heute als morgen, erscheint aus ihrer Sicht durchaus plausibel. Nicht umsonst hat Viktor Orbán Ungarns Medienlandschaft zielstrebig in eine flächendeckende Propagandawüste verwandelt.
Von solchen Zuständen ist man anderswo zwar noch komfortabel weit entfernt, doch die modernen Kommunikationspraktiken gedeihen keineswegs nur in den Hochburgen des Illiberalismus. Die Politik, zumal die populistische, zimmert sich gern ihre eigenen Echokammern; fremdmediale Störgeräusche sind darin herzlich unerwünscht. "Ich finde die Message Control großartig. Das fehlte uns damals. Leider." Aus gutem Grund trauerte Andreas Khol, der Chefarchitekt von Schwarz-Blau I, im Wonnejahr eins von Türkis-Blau einer verpassten Chance nach. Was er dabei geflissentlich unterschlug: Der Grat zwischen Message Control und Desinformation kann im Ernstfall verdammt schmal sein. Irgendjemand sollte ihn deshalb immer kritisch im Auge behalten.
Diese Job-Description existiert übrigens schon länger. Sie wird von unabhängigen Medien wahrgenommen, und in einer Gesellschaft, die sich nicht widerstandslos für dumm verkaufen lassen möchte, bleibt das besser auch so.
Qualitätsjournalismus ist kein Luxus. Lassen wir ihn uns trotzdem etwas kosten!