Ab in die Mitte: Kern bricht SPÖ-Tabus und die Partei folgt
"Wenn der Faymann mit so einem Sicherheitspaket dahergekommen wäre, hätten wir die Löwelstraße (SPÖ-Parteizentrale, Anm.) besetzt“, flüstert der Mitarbeiter einer roten Abgeordneten vergangenen Dienstag in der Säulenhalle des Parlaments. Ein paar Schritte weiter, im Sitzungssaal des Nationalrates, stellt SPÖ-Bundeskanzler Christian Kern zeitgleich seinen frisch verhandelten Regierungspakt vor. Mit staatstragender Stimme - die Strapazen des Verhandlungswochenendes mit der ÖVP sind ihm ins Gesicht geschrieben - verkündet Kern: "Es ist kein SPÖ- oder ÖVP-Programm, sondern ein Programm, das Probleme lösen soll.“ Des Kanzlers neue Lieblingsfarbkombination: Rot-Weiß-Rot.
Eine Besetzung des Hauptquartiers der SPÖ hinter dem Burgtheater provozierte Kern mit seinem Kompromiss nicht. Nur ein selbst bemaltes Leintuch hissten die jungen Parteikritiker Mittwochnacht vor der Zentrale: "Menschen brennen nicht für Kompromisse, sie brennen für Grundsätze und Haltungen“, stand darauf zu lesen. Der Satz stammt von Christian Kern selbst, er sprach ihn im Mai 2016, kurz nach seinem Amtsantritt.
Am nächsten Tag war von Aktivismus nichts mehr zu sehen. Parteimitarbeiter entsorgten das Banner frühmorgens hurtig. Der Mini-Protest kostete den Kanzler wohl nur ein müdes Lächeln. Denn abseits der roten Jugendorganisationen und der kritischen Wiener Sektion 8 hat er seine Genossen vom Burgenland bis Vorarlberg fest im Griff.
Werner Faymann wäre damit nicht durchgekommen. Er musste sich 2010 die Besetzung der SPÖ-Zentrale gefallen lassen, als Studentenvertreter gegen Zugangsbeschränkungen an Unis protestierten. Auch zu Beginn der Kanzlerschaft von Alfred Gusenbauer 2007 okkupierte ein Haufen Jusos wegen des damaligen Koalitionsübereinkommens mit der ÖVP das rote Parteihaus.
Ideologischer Freifahrtschein
Die Zeiten ändern sich. Was unter Faymann ein Tabubruch war, wird unter Kern als Öffnung und Verbreiterung gefeiert. Auch wenn den linken Parteiflügel manches Zugeständnis an die ÖVP noch so schmerzt: Die roten Kader versammeln sich in ungewohnter Einigkeit - bisweilen zähneknirschend - hinter ihrem Kanzler. Dieser nutzt seinen ideologischen Freifahrtschein, um die SPÖ unbeirrt in die Mitte zu steuern.
"Ob Sie es nun Persilschein oder Kredit nennen - das hat der Christian Kern in der Partei“, meint Josef Muchitsch, roter Gewerkschafter und Abgeordneter zum Nationalrat. Muchitsch war vergangenes Jahr nicht ganz unbeteiligt an Faymanns Demontage. "Werner, bitte lass los“, formulierte er in profil eine kaum verhohlene Rücktrittsaufforderung an den damaligen Kanzler: "Wir brauchen eine Richtungsentscheidung, eine SPÖ Neu, die nicht herumeiert, Zickzack-Kurse fährt und versucht, es allen recht zu machen.“ Acht Monate und ein neues Koalitionsübereinkommen mit der ÖVP später sieht es Muchitsch nicht mehr ganz so eng. Es müsse doch jedem bewusst sein, dass das Leben aus Kompromissen bestehe, sagte er am Rande der Nationalratssitzung vergangenen Dienstag.
Eiserne Disziplin oder blinder Kadavergehorsam? Ansichtssache. Unbestritten wirkt die Partei wie ausgewechselt. Als unverrückbar galten bisher rote Prinzipien wie der freie Universitätszugang, das Bekenntnis zum liberalen Rechtsstaat, die als Vranitzky-Doktrin bekannt gewordene strikte Ablehnung jedweder Koalition mit der FPÖ, das Veto zu Arbeitszeitflexiblisierungen ohne Lohnerhöhung.
Kern darf die Demarkationslinien seiner Partei nach persönlichem Gutdünken neu definieren. Die ungewohnte Bewegungsfreiheit des Kanzlers ist weniger seinem Charisma als vielmehr der politischen Großwetterlage geschuldet. Kern gilt unter den Genossen als letzte Chance. Wenn die ÖVP mit Außenminister Sebastian Kurz ein "Trumpfass“ (Steiermarks Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer) in der Hand hält, hat die SPÖ ihres mit Kern bereits ausgespielt. Die Partei kann es sich schlicht nicht leisten, ihn zu beschädigen.
Standing Ovations bei Klubsitzung
Auf den Wahltermin traut sich zwar nicht einmal die Regierungsspitze zu wetten. Bis zum nächsten Wahlkampf dauert es aber höchstens eineinhalb Jahre. Da wollen sich selbst als aufmüpfig punzierte Mandatare wie die Oberösterreicherin Daniela Holzinger nicht um ihre Chance auf einen aussichtsreichen Listenplatz bringen. Nur konsequent, dass die roten Nationalratsabgeordneten ihren Kanzler bei der Klubsitzung vergangenen Montag mit Standing Ovations bedachten, als er den tags zuvor paktierten Regierungsdeal präsentierte. Doch nicht allen, die sich offiziell begeistert geben, geht die Euphorie so leicht von den Lippen.
"Da und dort musste ich schon schlucken“, gesteht Tanja Wehsely, Wiener SPÖ-Gemeinderätin und führende Vertreterin des linken "Team Haltung“. Im Burka-Verbot sieht sie "eine Symboldebatte“. Vor nicht ganz einem Jahr kritisierte sie Faymann harsch für die Asylobergrenze und die Debatte über einen nationalen Notstand - unter Kern ist regulierte Zuwanderung akzeptierte Parteilinie.
Wohl auch deshalb, weil die Umfragewerte für Kern gut aussehen; in der Kanzlerfrage führt er souverän. Das lange verloren geglaubte Rennen um Platz eins scheint wieder völlig offen zu sein. Unter Faymann setzte es 18 Wahlniederlagen in Folge, einzige Ausnahmen waren die Kärntner Landtagswahl 2013 und die EU-Wahl 2014. Die schwer gestrauchelten Sozialdemokraten wittern seit Ewigkeiten wieder einmal Morgenluft. Und die wollen sie sich möglichst nicht vermiesen lassen - dafür sind sie bereit, so manche Krot zu schlucken.
"Das eine wird durchs andere erträglich“, begründet Peter Kaiser, Landeshauptmann von Kärnten, seine Strategie, sich mit dem Pakt anzufreunden. Auf der Habenseite verbucht der liberale Rote den Dienstleistungsscheck für Asylwerber, das Integrationsjahr mitsamt Rechtsanspruch auf Sprachkurse und bildungspolitische Maßnahmen wie das Gratis-Tablet. Beim Sicherheitspaket, das unter anderem die Fußfessel für "Gefährder“ vorsieht, also für Personengruppen, bei denen man nur davon ausgeht, dass sie eine Straftat begehen könnten, muss Kaiser seufzen: "Der Weisheit letzter Schluss scheint mir das nicht zu sein.“
Seiner ungeteilten Loyalität für Christian Kern tut dies freilich keinen Abbruch: Schon am kommenden Dienstag werden die beiden in Klagenfurt vor ein paar Hundert Parteimitgliedern über den Plan A referieren. Bedeutungsschwangeres Motto des Abends: "Von der Kreidezeit zum Tablet“.
Einbindung der Länderspitzen
Kern versteht es, die Länderspitzen seiner Partei, die seinen Vorgänger eiskalt abmontierten, einzubinden. Kaiser leitet die Kommission zu den Koalitionskriterien. Die nächste Sitzung ist für März avisiert. Was dabei herauskommen soll, steht schon jetzt fest: eine Abkehr von der strikten FPÖ-Ausgrenzung, ein Paket an roten Mindestforderungen für Koalitionen, gespickt mit noblen Werten und konkreten Forderungen wie etwa einer abermaligen Steuerentlastung für Arbeitnehmer. Damit alle mitkönnen, wird es das Papier in neunfacher Ausführung geben, für jedes Bundesland eines.
Michael Schickhofer, Vize-Landeshauptmann und steirischer SPÖ-Chef, ist mit der Neuaufstellung der Parteistruktur beauftragt. Er soll über Gastmitgliedschaften und themenbezogene Mitwirkungsmöglichkeiten nachdenken. Wer Entscheidungen an vorderster Front mitbestimmt, tut sich hinterher schwerer, dagegen zu sein.
Partei-CEO Kern teilt ein und wirft den Vorarbeitern ihr Auftragswerk gegebenenfalls zurück - so geschehen mit dem Entwurf des Parteiprogramms, das nach der dritten Vertagung nun 2018 wirklich kommen soll.
Den Unzufriedenen in der SPÖ bleibt der ehemalige deutsche SPD-Kanzler Willy Brandt, der einst sagte: "Es hat keinen Sinn, Mehrheiten für die Sozialdemokraten zu erringen, wenn der Preis dafür ist, kein Sozialdemokrat mehr zu sein.“ Das Zitat wird in den sozialen Medien dieser Tage wieder öfter geteilt.
Unter den Jungen herrscht Unverständnis: Im Falle von Neuwahlen hätte die SPÖ deutlich bessere Chancen gehabt. Deshalb bewerten sie das Verhandlungsergebnis als Schlappe. Eva Maltschnig, Vorsitzende der Wiener Sektion 8, einer Art sozialdemokratischer Thinktank, attestiert der SPÖ gar ein "Stockholm-Syndrom“. Ihre Partei lasse sich "von der Macht und der ÖVP einlullen“, schreibt Maltschnig in einem Gastkommentar für die Tageszeitung "Der Standard“. Ihr Fazit: "Wir müssen endlich aus dieser Koalition raus.“
"Breiter aufgestellte Bewegung"
Kerns Team hat von den profil-Recherchen Wind bekommen. Vom Krankenbett aus - er kuriert vergangenen Donnerstag einen grippalen Infekt aus - ruft der sendungsbewusste Kanzler an, um seinen Regierungsdeal zu verteidigen: "Sozialdemokratie neu zu denken heißt, ein Bündnis mit jenen zu suchen, die Arbeit schaffen und geben. Daran sollten wir uns gewöhnen“, sagt er. Heißt: Lohnnebenkosten senken, Investitionsanreize setzen, Arbeitszeit flexibilisieren. Wenn die SPÖ Wahlen gewinnen wolle, müsse sie "wieder eine breiter aufgestellte Bewegung werden“. Der Kanzler will also in die Mitte: "Das wird mitunter auch Kritik produzieren, und ich werde das aushalten.“
Kerns Kalkulation ist Pragmatismus in Reinkultur: Will die SPÖ aus ihrem strategischen Dilemma ausbrechen, muss sie jene strukturelle Mehrheit rechts der Mitte knacken, die seit 1983, seit dem Verlust der absoluten Mehrheit unter Bruno Kreisky, im Nationalrat besteht. Seither haben ÖVP, FPÖ und fallweise BZÖ oder das Team Stronach gemeinsam eine Mehrheit. Als Battleground für die Roten werden demnach blaue und schwarze Wählerschichten definiert.
Kern: "Das erfordert, dass wir die Themen Sicherheit und Integration nachvollziehbar abdecken. Ich gebe schon zu: Bei denen, die illegal im Land sind, werden wir mit deutlich klareren Maßnahmen versuchen, sie außer Landes zu bringen. Das müssen wir auch, sonst verlieren wir die Bevölkerung in unserem Bestreben, den wirklich Schutzbedürftigen zu helfen.“ Er ist der erste SPÖ-Kanzler, der so etwas laut aussprechen darf.
Wohin die Reise der roten Bundespartei geht, zeigen auch jene Genossen, die Kerns Kurskorrekturen am lautesten beklatschen. Burgenlands Landeshauptmann Hans Niessl zählt inzwischen zu den größten Fans des Bundeskanzlers: "Ich finde das sehr vernünftig, was der Kanzler macht. Ich darf Max Weber zitieren: Es gibt eine Gesinnungsethik und eine Verantwortungsethik. Das eine ist die reine Ideologie und das andere, was die Menschen interessiert. Die Verantwortungsethik ist bei uns im Burgenland sehr stark ausgeprägt - und bei Kern auch.“ Grenzkontrollen, die Beschränkung des Arbeitsmarktes für ausländische Arbeiter, Strafen für Integrationsunwillige und der Ausbau der Überwachung: Das alles steht schon länger auf Niessls Wunschliste. Nun darf er sich als Trendsetter fühlen.
Schwieriger wird es für Kern, sich aus der Freihandelszwickmühle zu befreien. Nach einer Abstimmung unter Parteimitgliedern wurde die ablehnende Haltung zu CETA evident; Kern positionierte sich dennoch als Freihandelsbefürworter. Das höchst erfolgreiche Volksbegehren mit über 500.000 Unterschriften, ausgerechnet von SPÖ-Bürgermeistern initiiert, bringt die Parteispitze zusätzlich in die Bredouille. Denn auch Nationalräte wie die Niederösterreicherin Katharina Kucharowits haben das Volksbegehren unterzeichnet. Für und gegen Freihandel gleichzeitig zu sein, wird auf Dauer nicht gehen.
Kern muss darauf hoffen, dass es die Parteifreunde mit seinem Intimus Josef Muchitsch halten: "Bei uns am Land sagt man: Wenn ein Pferd in die richtige Richtung zieht, lass es.“