Abgelehnte Flüchtlinge: Die meisten werden trotzdem bleiben
Am 24. Juni 2015 heben am Flughafen Sofia zwei Chartermaschinen Richtung Wien ab. An Bord sind 18 abgewiesene Flüchtlinge aus der Elfenbeinküste. Beim nächsten Stopp in Madrid eskortieren Polizisten 40 Nigerianer und einen weiteren Asylwerber aus der Elfenbeinküste an Bord. 59 Asylwerber, deren Traum von Europa über den Wolken verfliegt. "Organizing Member State“ des Frontex-Fluges ist Österreich.
Nicht alle "Schüblinge“ nehmen ihr Schicksal widerstandslos zur Kenntnis. Ein Flüchtling, der auf dem Weg zum Flughafen um sich schlägt, fügt einem spanischen Polizisten einen Muskelfaserriss zu, 19 weitere Flüchtlinge müssen gepolsterte Handschellen tragen. Trotzdem gibt es vom Verein für Menschenrechte Österreich eine römische Eins für die 151 Polizisten an Bord. "Ausmaß und die Dauer der Fixierung angebracht“, Arbeit "äußerst professionell“, heißt es im Abschlussbericht.
Die Vizechefin des Bundesamts für Asyl und Fremdenwesen (BfA), Elisabeth Wenger-Donig, sieht Österreich heute als "Vorreiter bei Menschenrechtsstandards an Bord“. Und als wolle man dies der ganzen Welt beweisen, reißt sich Österreich förmlich um Frontex-Flüge. So organisierte Österreich 2015 die einzigen beiden Abschiebungen nach Nigeria und ist lauf BFA Frontex-Abschiebe-"Europameister“.
Das offizielle Österreich rühmt sich seiner Abschiebe-Kultur. Das ist neu. Bisher liefen Abschiebungen wegen ihrer per se unsympathischen Natur im Verborgenen ab. Man sprach nur darüber, wenn es sich nicht verhindern ließ, so wie nach dem Tod des Nigerianers Marcus Omofuma 1999: Der Schubhäftling erstickte, weil ihm Polizisten den Mund verklebt hatten. 2006 sorgte dann die Prügelorgie gegen den Gambier Bakary J. für Schlagzeilen.
SPÖ-Bekenntnis zur Verabschiebungskultur
Mit der Flüchtlingswelle aus Syrien, Afghanistan und Afrika sind Abschiebungen plötzlich en vogue, selbst bei der SPÖ. "Wir können nicht vorgeben, dass alle Flüchtlinge Platz haben. Deswegen müssen wir Abschiebungen intensivieren“, sagt SPÖ-Bundeskanzler Werner Faymann. "Die Rückführung jener Leute, die keinen Asylstatus bekommen, muss forciert werden“, drängt SPÖ-Klubchef Andreas Schieder. "Wir brauchen mehr Rückführungen“, tönt der burgenländische Landeshauptmann Hans Niessl. Selbst in der Wiener SPÖ, die besonderen Wert auf ihre Willkommenskultur legt, bekennt man sich zur neuen Verabschiebungskultur: "Wirtschaftsflüchtlinge“ sollen gehen und Platz machen für echte Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien und dem Irak.
Die SPÖ ist in guter Gesellschaft. Die EU-Kommission hat mit ihrem "Action Plan on return“ einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der ein klares Ziel hat: Mehr Abschiebungen! Österreich schickte bis Ende November 7400 Personen heim. 4400 gingen freiwillig, 3000 nicht. Das Land verlassen müssten mehr als doppelt so viele. EU-weit gingen 2014 nur 40 Prozent der abgelehnten Flüchtlinge heim, nach Afrika weniger als 30 Prozent, rechnet die Kommission vor. "Nur konsequentes Abschieben kann das Vertrauen der EU-Bürger in das europäische Asylsystem bewahren“, formuliert die Kommission scharf. Ein Satz, den man vor der Flüchtlingswelle eher FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache zugeschrieben hätte.
Doch die Realität sieht anders aus. Selbst wenn Brüssel und Wien die größte Abschiebe-Aktion der Geschichte starten, selbst wenn Bundeskanzler Faymann persönlich eine Herkules-Abschiebe-Maschine in den Iran steuert, wird das die Zahl der Flüchtlinge im Land nicht empfindlich senken. Denn die Landeerlaubnis hängt vom Goodwill der Herkunftsländer ab. Und die haben wenig Grund, ihre Leute zurückzunehmen. Kein Politiker mag das laut aussprechen, doch die Wahrheit ist: Der größte Teil der Flüchtlinge, die in den vergangenen Monaten nach Europa kamen, wird hierbleiben.
Österreich hat heuer um 36 Prozent mehr Menschen außer Landes gebracht als 2014, sagt das BFA. Stimmt, aber das gelang nur wegen des Sonderfaktors Kosovo. Am 11. März 2015 dreht ein von Österreich aus organisiertes Charterflugzeug die Runde Lyon-München-Wien-Pristina und schiebt 97 Kosovaren ab: 29 aus Österreich, 58 aus Deutschland. "Rückkehrer erfolgreich und ohne Zwischenfälle abgeschoben“, heißt es im Abschlussbericht. Am 22. September kehren über die Route Kassel-Wien-Pristina je 28 Kosovaren aus Österreich und Deutschland in ihre Heimat zurück. "Keine Zwangsmaßnamen nötig, Zusammenarbeit exzellent.“
Mehrfachabschiebungen auf den Balkan
2015 stellten die Kosovaren den mit Abstand größten Teil der "Schüblinge“. Der Mini-Exodus vom Balkan war ein kontinentales Missverständnis gewesen. Österreich machte den Menschen mit einer Informationskampagne rasch klar, dass es für sie kein Asyl geben kann, kappte den Zuzug bis März und schob ab. Rund 1000 gingen freiwillig. Deutschland, ein Hauptmagnet für Balkanflüchtlinge, stellte das Stopp-Schild erst später auf. Wenn es in deutschen Medien nun heißt: "Deutschland verstärkt Abschiebungen massiv“, sind damit nicht die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten gemeint, sondern Albaner und Serben. Nicht selten kommt es zur Schubumkehr und die Leute kommen bei nächster Gelegenheit wieder. Mehrfachabschiebungen auf den Balkan sind keine Seltenheit, in der Statistik zählen sie doppelt und dreifach.
Salzburg im November, auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsstroms Richtung Deutschland. Im Transitlager am ehemaligen Asfinag-Gelände spricht eine Gruppe Flüchtlinge auffällig gut französisch. "Es sind extrem viele Marokkaner hier“, ist eine freiwillige Flüchtlingshelferin erstaunt. Sie verteilt färbige Bänder für Bustransporte zur deutschen Grenze. Die Nordafrikaner wollen im Strom der Syrer, Iraker und Afghanen nach Deutschland mitsurfen. Doch Deutschland weist sie ab, und sie stranden in Salzburg. Abschiebung nach Marokko: Fehlanzeige. Ein Drittel stellt laut Behörden einen Asylantrag, manche werden "geduldet“ und bekommen die niedrigste Form der Aufenthaltserlaubnis, der Rest taucht in Österreich ab oder überquert heimlich die grüne Grenze nach Deutschland.
Mit Marokko und Algerien gibt es keine Rücknahmeabkommen, um jedes Heimreisezertifikat muss das Asylamt mühsam ringen. "Manche Länder verstehen oft nicht, warum Flucht und Migration zwei paar Schuhe sind und Menschen ohne anerkannten Fluchtgrund nicht einfach in Europa bleiben können“, sagt Wenger-Donig. "Die Anerkennungsquote bei Marokkanern oder Algeriern liegt bei einem Prozent. 99 Prozent müssten ausreisen, aber die Abschiebungen dorthin funktionieren mehr recht als schlecht“, sagt der Chef des Vereins für Menschenrechte, Günter Ecker. Mit dem Iran, der viertstärksten Flüchtlingsnation, herrscht überhaupt Funkstille.
Ohne Perspektive droht Abrutschen in Kriminaliät
Vergangene Woche forderte Bayern, dass Asylwerber ohne Papiere nicht mehr ins Land dürfen. Falls die Bayern das durchsetzen, würde in Österreich ein Rückstau entstehen. Die Zahl der "Geduldeten“ oder "sans papiers“ würde deutlich steigen. Das sind Menschen ohne Papiere, Arbeitserlaubnis und staatlichem Taschengeld. Ohne Perspektive drohen sie in die Kriminalität abzurutschen. Vergangenen Mittwoch lieferten einander 15 marokkanische Asylwerber am Salzburger Hauptbahnhof eine Schlägerei. In Innsbruck kontrollieren bis zu 100 Marokkaner den Cannabis-Handel, erzählt Innsbrucks Stadtpolizei-Kommandant Martin Kirchler. Sie kamen lange vor der aktuellen Flüchtlingswelle über Italien, suchten um Asyl an und leben nun ohne Aufenthaltstitel in Abbruchhäusern oder bei Freunden. Durchschnittlich 60 von ihnen sind in Haft. Ihre Dokumente haben sie so wie viele Flüchtlinge vernichtet. "Sie sind nicht abschiebbar, weil Marokko sie nicht zurücknimmt“, sagt Kirchler. In Wien erzählt ein Polizist, der namentlich nicht genannt werden möchte, eine ähnliche Geschichte über junge "Street-Runner“ aus Nigeria und Gambia, die entlang der Gürtelbögen dealen. "Das sind oft Leute, deren Asylantrag nach Ablauf aller Instanzen abgelehnt wurde, deren Heimatländer sie aber nicht zurücknehmen.“
Derzeit verhandeln Marokko und Algerien ein Abkommen mit der EU. "Wenn die EU verhandelt, dürfen wir nicht parallel bilaterale Abkommen abschließen“, sagt Wenger-Donig. Selbst wenn Marokko einlenkt: So ein Pakt ist nach Lust und Laune kündbar, wie das Beispiel Pakistan zeigt. Seit 2010 gibt es ein EU-Abkommen mit dem Land. Ende November legte Pakistan die Vereinbarung auf Eis. Pakistani seien "wie Tiere“ behandelt und ohne passende Dokumente zurückgeschickt worden, behauptet Innenminister Chaudhry Nisar Ali Khan und stellt nun selbst ein Stopp-Schild auf. "Kein Flugzeug mit Flüchtlingen landet bei uns.“
Es findet sich immer ein Grund, die eigenen Leute draußen zu halten. Zum Beispiel profitieren bevölkerungsreiche Staaten ökonomisch ungleich mehr davon, wenn ihre Bürger in Europa bleiben und Geld heimschicken. Überweisungen von Migranten sind ein permanentes Konjunkturpaket und übersteigen die Entwicklungshilfe um ein Vielfaches. Die EU könnte nun den Einsatz der Entwicklungshilfe erhöhen, um die Länder milde zu stimmen, oder damit drohen, das Geld zu streichen. Das würde aber wohl noch mehr Flüchtlinge produzieren.
Es geht auch anders: Der Afghane Ahmed K. (Name geändert) flüchtet Anfang des Jahres aus der afghanischen Hauptstadt Kabul. Nach einigen Monaten im Flüchtlingscamp zieht es ihn zurück zur Familie. Innenministerium und EU zahlen ihm das Flugticket und legen 500 Euro für den Start oben drauf. Vor Ort betreut ihn die International Organization for Migration (IOM). Mit dem Startgroschen erwirbt er einen Anteil an einem Lebensmittelgeschäft. Heute verdient er rund 200 Euro im Monat - Rückkehr und Entwicklungshilfe in einem.
Afghanen stärkste Asylwerber-Gruppe
170 Afghanen kehrten in diesem Jahr freiwillig in ihr kriegsgebeuteltes Land zurück. Ein guter Teil nach Kabul, sagt Andrea Götzelmann vom IOM. "Nach Afghanistan gehen doppelt so viele Menschen wie nach Pakistan.“ Das sind freilich nur rund 0,5 Prozent derer, die heuer einen Asylantrag stellten. 22.000 Afghanen baten bis Dezember um Asyl. Im November lösten sie die Syrer als stärkste Gruppe ab.
Drittgrößte Gruppe nach den Syrern waren die Iraker. In den Irak kehrten sogar schon 700 Flüchtlinge freiwillig zurück. Nicht in jedem Winkel des Irak und Afghanistans drohen Verfolgung oder Tod. Sonst würden Menschen nicht freiwillig dorthin gehen. Deutschland hat im Herbst angekündigt, mehr Menschen nach Afghanistan abschieben zu wollen - in sogenannte Schutzzonen. Die EU startet im Jänner einen Dialog mit Afghanistan über die Rückkehr. Doch die Sicherheitslage hat sich in der Zwischenzeit wieder verschlechtert. Die Taliban sind im Süden auf dem Vormarsch, zwischen 3000 und 5000 IS-Kämpfer schwingen ihre schwarzen Fahnen nun auch am Hindukusch. Die Schutzzone von heute kann die Schusszone von morgen sein.
Die massenhafte Rückkehr von Afghanen, Irakern oder Syrern in sichere Gebiete ist Zukunftsmusik. Österreich ist dabei auf den Gleichklang mit Berlin und Brüssel angewiesen. Geht es nach dem europäischen Masterplan, müsste sich Österreich bald gar keine Gedanken mehr über Abschiebungen machen: Die sollen nämlich direkt von den geplanten "Hotspots“ an der EU-Außengrenze erfolgen, über sogenannte "Return Offices“. Doch bis dahin werden noch viele Flüchtlinge durch die löchrige EU-Grenze und die diversen Zäune auf der Balkanroute schlüpfen. Zeitplan im Kommissionspapier: 2014 bis 2020. Was Österreich bis dahin selbst tun kann, um die Rückkehr zu forcieren: Mehr Schubhaft und mehr Charterflüge.
Schubhaftzentrum Vordernberg in der nördlichen Steiermark: Viele private Sicherheitswachen, rund 50 Asylwerber, die am Beginn des Verfahrens für 48 Stunden in Gewahrsam genommen werden, keine "Schüblinge“. Krasser könnte der Gegensatz zwischen Anspruch (mehr Abschieben!) und Wirklichkeit (leeres Schubhaftzentrum) nicht sein. Der Grund: Flüchtlinge mit negativem Asylbescheid bleiben auf freiem Fuß, während sie früher fast automatisch in Schubhaft landeten. Heute will das BFA erst prüfen, ob die Ausreise überhaupt möglich ist. Wenn ja, klopft die Polizei 72 Stunden vor der Abschiebung an und sperrt die Rückkehrer in eines der Wiener Schubhaftzentren, bevor es zum Terminal 240 am Wiener Flughafen geht. "In Wien sitzen zwischen 30 und 50 Personen in Schubhaft“, sagt Ecker. "Früher gab es in ganz Österreich Schubhäftlinge und alleine in Wien durchschnittlich 220.“
"Sekundär-Migration"
Vordernberg kostete 25 Millionen und verschlingt monatlich 450.000 Euro Betriebskosten. Aus heutiger Sicht eine glatte Geldvernichtung. Das Zentrum könnte sich aber wieder füllen, wenn sich die EU-Kommission durchsetzt. Sie will verhindern, dass ein Teil der abgelehnten Asylwerber untertaucht und in andere Länder weiterzieht, wie am Beispiel der Marokkaner in Salzburg illustriert. Diese "Sekundär-Migration“ solle tunlichst durch Schubhaft vermieden werden. Die Kommissionsbeamten schlagen eine Schubhaft bis zu sechs Monaten vor, bei aufwendigeren Abschiebungen bis zu 18 Monaten. Alternative: Fußfessel. Das letzte Wort haben die Mitgliedsländer.
Die Rückkehr zur alten Schubhaftpraxis würde die Zahl der Abschiebungen wohl steigern - allerdings zu einem hohen Preis. Es ist nicht sehr human, Menschen monatelang einzusperren, deren einziges Vergehen der Wunsch nach einem besseren Leben war. Und nicht zu vergessen: Haft ist teuer.
Ein Charterflug ebenfalls. Noch immer werden fünf von sechs Rückkehrer in Linienflugzeuge gesetzt. Zwei Polizisten begleiten den Flüchtling im Sitz links und rechts. Jede dritte Abschiebung auf diesem Wege scheitert, weil Flüchtlinge "laut schreien, spucken, um sich schlagen“, geht aus einer parlamentarischen Anfragebeantwortung des Innenministeriums hervor. Frontex-Charter-Flüge sind effizienter und sicherer. "2015 mussten nur sechs Personen oder ein Prozent Handschellen oder einen Fixiergurt tragen“, sagt Ecker. "Das sind an sich vernünftige Leute, die einschätzen können, dass Widerstand bei so vielen gut geschulten Polizisten zwecklos ist.“ Allerdings sind Charterflüge viel teurer: Frontex-Flüge in den Kosovo kosten den europäischen Steuerzahler zwischen 70.000 bis 100.000 Euro, ein Frontex-Flug nach Nigeria bis zu 500.000 Euro.
Ecker ist voll des Lobes für diese Flüge und die Arbeit der Wega und Cobra an Bord. Er arbeitet seit 22 Jahren in der Schubhaftbetreuung und steht fast ebenso lange im Kreuzfeuer anderer NGOs. Sie brandmarken ihn als Lohnsklaven des Innenministeriums und nennen seinen Verein "GOGO“ für "Governmental-Organisation“ (im Unterschied zur Non-Governmental-Organisation): "Wer grundsätzlich ein Problem mit Abschiebungen hat, kann unsere Tätigkeit nicht gutheißen“, sagt er nüchtern. "Ich bekenne mich dazu, dass es eine Ausreise für Leute geben muss, die keinen Schutzstatus bekommen.“
Das gilt streng genommen auch für die Georgierin Marina Moisieva, die 2011 mit ihren zwei Söhnen nach Österreich flüchtete, um ihren jüngeren Sohn erfolgreich behandeln zu lassen. Er litt an Knochenkrebs. Nun soll die Familie abgeschoben werden. Im Internet fordern 1300 Menschen in einer Petition ein humanitäres Bleiberecht für die Klavierlehrerin, die ab 2016 in eine eigene Wohnung ziehen wollte. Das ist die andere Seite der Verabschiebungskultur. Greift sie zu spät, wird sie zur Unkultur. Wie wohl die SPÖ entscheiden würde?